Silvia Bovenschen

Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin
Geboren 5.3.1946
Gestorben 25.10.2017
Mitglied seit 2013

Johann-Heinrich-Merck-Preis

»Wenn der lahme Weber träumt, er webe, ...«
Ich besitze ein Dokument, ein kurzes Schreiben, eigentlich ist es nur ein datiertes Briefchen aus dem Jahr 1956, das mich als frühe Schriftstellerin ausweist.
Ich bin zehn Jahre alt, beginne einen Roman, komme aber über den Anfang nicht weit hinaus. Angelegt ist eine dramatische Handlung, in die dreizehn Kinder und neun Hunde – ausnahmslos problematische Charaktere – kunstvoll verwickelt sind. Ein frühes Wollen. Ein frühes Scheitern. Erst fünfzig Jahre später werde ich daran anknüpfen können.
In der Zeit dieses Scheiterns lege ich ein Kompendium an, ein schmales Buch, eigentlich ist es nur ein Heftchen – darin liste ich Wörter auf, solche, die ich liebe oder komisch finde (Düsenjäger, Keuchhusten, Aberglauben, Brechdurchfall, Wolkenkratzer, Schüttelfrost, Atemnot), auch Zitate, eigene Einreden und Kommentare, vor allem aber die Sätze anderer, Sätze, die zuweilen Bannstrahlen, ja Flüchen gleich, auf mich niedergehen.
»Ich verordne absolute Bettruhe!«
Wer sagt so etwas immer wieder? Es sind die Ärzte, die in mein Kinderzimmer vordringen.
So eine Teufelei.
Irgendwann liege ich lange Wochen in einem Spital.
»Da wird es wohl dieses Jahr nichts mit der Siegerurkunde in den Leibesübungen«, sagt meine beste Freundin.
»Na und? Sport ist für die Dummen!«
Da glaube ich noch, dass Arroganz dem verletzten Stolz aufhelfen kann.
Ich lese, wann und wo ich kann.
Ich gehe nicht mehr zum Ballettunterricht.
So viel Kraft aber bleibt: Ich werde weiterhin auf die Pferde steigen.
»Es ist nicht einzusehen, dass man mit einer gelungenen Dressur von Hund und Ross keine Fünf in Mathematik ausgleichen kann«, sage ich ins Leere.
Schule ist öde. Während des Unterrichts träume ich mich weg. Das aber ist über weite Zeiten gar nicht nötig. Denn ich bin ja dort vor Ort, in der Lehranstalt, nicht so oft.
»Dreimal Scharlach, das muss man erst mal schaffen.« Das sagt mein besorgter Onkel.
»Frier nicht!«, ruft meine Mutter mir hinterher. Seitdem liebe ich Gefühlsbefehle.
»Silvia krank, Arzt gerufen.« Das schreibt sie nahezu monatlich in ihren Kalender. Ich lese das erst nach ihrem Tod. Jahrzehnte später.
Wenn ich, oh wie oft, mit irgendeiner Kinderkrankheit im Bett liege, werde ich zuverlässig und hinreichend mit Lesestoff versorgt.
Glück im Pech. Teuflisch gut.
»Du hast wieder nicht geübt«, das sagt milde meine geliebte Klavierlehrerin im Hochʼschen Konservatorium zu Frankfurt am Main. Stimmt, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die Finger wollen mit den Jahren nicht mehr so geläufig sein. Weiß der Teufel warum.
»Eine große Pianistin werde ich eh nicht.« Sage ich trotzgeschwellt.
Aber ein Scheitern ist es doch.
»Frauen sind für geistige und künstlerische Hochleistungen nicht geschaffen.« Wer sagt das? Die Biologielehrerin. Ich glaube ihr kein Wort.
Ist auch egal. Ich will zum Zirkus. Will Tiger oder Pferde dressieren.
Wegen einiger Lappalien (mein Streik bei der gymnasialen Aufnahmeprüfung, das Jagdmesser mit Blutrinne, das ich auf mein Pult lege, damit die verhasste Lehrerin weiß, wie es um uns steht) wird meinen Eltern nahegelegt, mich auf die Hilfsschule zu schicken. Mein Vater schimpft, aber nicht sehr. Er verkündet: »Das Kind ist nicht dumm, nur faul.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sage ich.
Er aber ist unerbittlich. »Es führt kein Weg vorbei am Abitur!«
Ich finde mich wieder auf einem privaten Gymnasium. Nach einigen erschwindelten Versetzungen wird mir eine Deutschlehrerin geschenkt, die mir gefällt. Ich gebe den aktiven Widerstand auf, wenigstens in manchen Fächern. Das viele Lesen macht sich bezahlt. Wer hätte das gedacht?
»Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«, sage ich zu ihr.
»Ist ja schon gut«, sagt sie.
Nur in Mathematik ist nichts zu machen. Anschluss verpasst. Zahlenphobie.

»Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe, ...«
»Versinke stampfend, stampfend steigst du wieder.«
Wer hat das gesagt? Der Schauspieler Gustaf Gründgens. Ich sitze mit meinem Onkel im Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Ich bin ungefähr dreizehn Jahre alt und verstehe wenig von dem, was in diesem Stück gesagt und getan wird. Aber ich bin fasziniert. Hochgradig. Ich finde, dass mein Onkel zu laut atmet.
»Ich gehe zum Theater. Sofort«, verkünde ich.
»Nach dem Abitur!« Mein Vater wiederholt sich.
Mein lieber Onkel ist plötzlich gestorben. Ich bin traurig. Ich versuche den Tod zu verstehen und scheitere.

»Träumt die stumme Nachtigall, sie singe, ...«
»Dialektik bei Kierkegaard ...«.
Wer könnte davon gesprochen haben? Ich sitze unversehens in der Vorlesung von Theodor Wiesengrund Adorno. Der Zufall hat mich dorthin gespült. Obwohl noch Schülerin, habe ich bei einem renommierten Studententheater Aufnahme gefunden.
»Es zogen zwei Sänger zum säuselnden See«, das ist die erste Zeile eines endlosen sprechtechnischen Übungsgedichts.
Zweimal in der Woche lassen die studentischen Mimen ihre Textbücher fallen und streben aus dem Raum. Ich folge ihnen in einen überfüllten großen Hörsaal. Eine erregte Atmosphäre. Die Erregung gilt dem rundlichen Mann, der auf und ab geht und dabei druckreife Sätze von sich gibt zu offensichtlich schwierigen Sachverhalten. Ich verstehe kaum etwas, bin aber fasziniert. Hochgradig.
»Wer so sprechen und denken kann, weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält«, schreibe ich auf.
Ich beschließe, weiterhin zu den Vorlesungen des berühmten Mannes zu gehen. »Das Ganze ist das Unwahre.« Mit dieser oder anderen Sentenzen aus gleicher Quelle fangen jetzt meine Aufsätze an. Ich gehe meiner Deutschlehrerin auf die Nerven.

»Träumt das blinde Huhn, es zähl’ die Kerne, ...«
Etwas später studiere ich bei dem Künstlerphilosophen. Kaum habe ich brav damit begonnen, stolpere ich mitten in die Studentenbewegung.
Aufbruch, Befreiung, frischer Wind, Widerstand gegen erschlichene und angemaßte Autorität. Ganz mein Geschmack. Aber es häufen sich auch merkwürdige Marschbefehle. Mit der Bekämpfung »des Muffs von tausend Jahren« bin ich einverstanden, nicht aber mit der Losung »Trau keinem über dreißig!«. Mein derzeitiger Freund ist siebzehn Jahre älter als ich.
Ich studiere gerne, wenn auch zuweilen wild in der Auswahl des geistversprechenden Angebots.
In den Revoltekreisen mögen mich manche, andere aber nicht. Weil ich in die Oper gehe, Samtvorhänge habe und mich den Dress- und Sprachcodes verweigere, bin ich verdächtig. »Du bist zwar irgendwie dabei, gehörst aber nicht richtig dazu«, das sagt einer aus der Gruppe derer, die mich nicht mögen. Für die bin ich die bourgeoise Bovenschen. Schon recht.
Die Bewegung hat viele Farben, man kann sich an die Klugen halten.

»Träumt das starre Erz, gar linde tauʼ es, ...«
Der frische Wind hat sich gelegt. Jetzt will ich auch nicht mehr »irgendwie« dazugehören. Eingeklemmt zwischen aktionistischen Fanatikern, die deutlich Ungutes planen, und muffigen Kaderdogmatikern werde ich randständig. »Gleichwohl, ich werde nicht verraten, was ich an der Revolte eingangs gut fand«, versichere ich mir im Notat.

»Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, ...«
In der Studentenbewegung haben fast nur Männer das Sagen. Als hätte meine einstige Biologielehrerin Einfluss genommen. Ich gründe mit einigen anderen Frauen eine feministische Opposition. Das liegt wohl in der Luft. Bald entsteht eine Frauenbewegung im ganzen Land. Auch in deren Reihen mögen mich einige, andere nicht. Ich habe keine Lust auf die Gebote freiwilliger Verhässlichung. Dennoch: Ich werde den Ungeist der Biologielehrerin weiterhin bekämpfen.
Ich gewöhne mich daran, zwar dazuzugehören, aber doch auch nicht. Ich trainiere die Artistik des Zugleichs von Drinnen und Draußen.
Ich formuliere frei heraus einen Argwohn: dass nämlich jede Bewegung ihre eigene Parodie generiert.

»Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, ...«
Ich werde schwächer, ich kann es mir länger nicht verbergen.
Das ärztliche Urteil. Jetzt hat mein Pech, die ganze Teufelei, einen Namen. Meist auf zwei Buchstaben verkürzt. Unheilbar. Aha.
Ich bitte die Ärzte, meinen Eltern den Krankheitsnamen zu verschweigen.
Ich exzerpiere: »Ein namenloses Heimweh weinte lautlos«.
Später, Jahrzehnte später, lange nach dem Tod meiner Eltern erfahre ich durch einen Zufall, dass mein Großvater mütterlicherseits früh dieser Krankheit erlegen ist. Sie müssen erkannt haben, was mich da quält. Barmherziges Verschweigen eines bösen Namens beiderseits. Liebenswert. Auch sinnlos?
»Sie müssen Stress und körperliche Anstrengungen strikt meiden«, sagt der Professor der Neurologie. Damit fallen alle meine Berufsträume in sich zusammen.
Aber klüger werden kann ja nie etwas schaden. Ich studiere weiter bei dem berühmten Mann.
Der stirbt schon bald darauf. Ein Schwur: Ich werde ihn ehren und, ohne mich wie so manche zum Gralshüter seiner Theorie aufzublasen, nie verraten, was ich ihm verdanke.
An einem grauen Tag in einem kahlen Raum. Jemand hält ein mit vielen soziologischen Vokabeln und vulgärmarxistischen Wendungen gespicktes Referat. Vor der Frau neben mir liegt der Band einer alten Eichendorff-Ausgabe. Er glänzt fremd in den kahlen Raum. Die Frau entschuldigt sich: »Ich muss das lesen, weil ich das studiere.«
Ich beschließe, »das« auch zu studieren.
Die Kürzelkrankheit fordert ihr Recht. Ich verschwinde drei Monate im Krankenhaus. Im nächsten Jahr sind es dann gleich vier Monate.
Lektürezeit.
Ich nehme Anlauf im wissenschaftlichen Schreiben und bringe dieses und jenes zu Papier. Erstaunlich, es wird gedruckt. Ich werde gelobt.
Auch der bewunderte Lektor eines großen Verlags lobt mich.
Noch ganz im Glanz des unerwarteten Lobs bricht eine harte Zeit an.
Mein Vater erleidet einen Schlaganfall.
Er ist eineinhalb Jahre bei klarem Verstand fast völlig gelähmt. Klaglos.
Mein Vater ist gestorben. Meine Mutter ist nur noch Schmerz.
Ich verstehe, dass man den Tod nicht verstehen kann.
Meine Jugend stirbt auch.

»Führt der hellen Töne Glanzgefunkel ...«
»Jetzt aber mal«, diese kindliche Anforderung richte ich an mich selbst. Ich will mich um einen Beruf kümmern. Ich werde fleißig. Ich absolviere in einer wie nur eben machbar kurzen Zeit zwei Staatsexamina, ein Referendariat an einem Gymnasium und eine Promotion. Donnerwetter.
Aufsätze werden in Amerika veröffentlicht. Meine Doktorarbeit, die der Lektor auch sogleich in Druck gibt, ist ein Erfolg.
Zustimmende Rezensionen in den wichtigen Zeitungen. Einladungen zu Vorträgen. Das ganze Erfolgsprogramm. Wie das so ist, wenn es ist.
»Da geht was los bei dir«, sagt eine Freundin.
»You are well-known«, sagt eine amerikanische Akademikerin. Warum nur finde ich das komisch?
Dann also die Wissenschaft. Studenten quälen kann man auch im Sitzen.
Vollbremsung. »Mit einer chronischen Krankheit werden Sie in diesem Land nicht verbeamtet, eine akademische Karriere können Sie vergessen.«
Wer sagt das? Keine Ahnung. Aber er hat teuflisch recht.
»Dann folgst du eben den Lockrufen ins Ausland«, sagt ein Freund.
Das kann ich meiner betagten Mutter nicht antun.

»Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, ...«
Ein Schwur: Ich werde nicht verbittern.
Ich habe jetzt ein Auskommen als »wissenschaftliche Bedienstete«.
Ich unterrichte gerne.
Ein Trost. »Da bleibt mir einiges auch erspart«, sage ich zu meiner Freundin. »Keine Kongresse, keine Symposien, kein Kalkül bei der Themenwahl der Publikationen, keine (nicht einmal eine unbewusste) Sortierung der Menschen nach Maßgabe ihrer Nützlichkeit fürs Fortkommen.« Ich gehöre zum akademischen Rudel, aber nur irgendwie.
Mein Sport: die Beobachtung. Ich werde ein Snob der zweiten Reihe.
Ich erfülle meine Dienstpflichten gewissenhaft.
Ich schreibe Essays.
In der Lehre macht man mir keine Vorschriften.
Ich kann tun, was ich tun muss, und auch einiges darüber hinaus.
Aber bald ... »Sie haben erstaunlich viele Knoten in ihrem Hals«, sagt der Arzt. Operation mit, ja klar, Komplikation. »Gutartig«, der Arzt strahlt.
Glück im Pech.
Ich schreibe einen Essay.
Und wieder ... »Höllische Schmerzen!« Nicht auszuhalten.
»Steine, die dort nicht hingehören, haben sich in Ihrer Niere angesiedelt«, sagt der Arzt. In einem Klinikkellerraum, der wie das Weltraumlabor eines Science-Fiction-Films wirkt, werden sie zertrümmert. Ein Höllenlärm. Das ist nicht arg. Ich kann es sogar interessant finden. Ich gebe ein Buch heraus.
Ich nehme teil an einer medizinischen Studie zu meiner Kürzelkrankheit in der Universitätsklinik. Eine Flüssigkeit wird infundiert. Mir wird sonderbar. Die Sonderbarkeit steigert sich immer schneller ins Unerträgliche. Jetzt befindet sich mein Körper in grellem Aufruhr. Ein Kurzschluss aufs Ganze. Vor meinen Augen ein verrückter Tanz. Das ist das Ende, denkt es in mir. Nein, das ist kein Denken mehr. Ein inneres Signal nur noch. Ich kippe weg.
»Das war knapp«, sagt der Professor. Er ist blass. »Ein anaphylaktischer Schock.«
Ich exzerpiere: »Leben überhaupt heißt in Gefahr sein.«
Ich schreibe einen Essay.
Ich unterrichte gerne.
Ich schreibe ein Vorwort.

»Horch! die Fackel lacht, ...«
Ich besuche meine Freundin in Berlin. Anruf von einem Arzt.
»Kommen Sie sofort zurück. Ihre Mutter ist sehr krank.«
Das Blut. Bösartig.
Ich nehme das nächste Flugzeug. Ich rauche wieder.
Ich hole sie zu mir. Manchmal muss sie in die Klinik. Manchmal haben wir noch eine kurze gute Zeit der Nähe in diesem langen unvergleichlichen Jahr ihrer Qual. Einmal, zum grausamen Ende hin, kann ich sie nicht mehr heimholen.
Januar. Als sie aufhört zu atmen, lache ich, weil ich froh bin, dass ihre Qual ein Ende hat. Dann schlägt mich der Verlust nieder.
»Nicht in einem geheimen Bund sich mit dem Schmerz einlassen!«, rät ein großer Dichter.
Ich will es versuchen.
Ich habe jetzt wieder Freude daran, Essays zu schreiben über Themen, die langweilige Akademiker nicht comme il faut finden.
Ich lese. »Solang Begeisterung wechselt und Verzagen.«
Ich unterrichte gerne.
Ich schreibe eine Laudatio.
Ich lebe gerne.

»Weh, ohnʼ Opfer gehn die süßen Wunder, ...«
Wieder ein Knoten, wo er nicht hingehört.
Bösartig!
Untersuchungen. Operationen. All das hier Notgebotene.
Teufelei ist ein zu geringes Wort.
Erstaunlich. Ich werde weiterhin sein.
Ich erfülle meine Dienstpflichten.
Ich schreibe einen Essay. Manchmal schreibe ich auch für den Rundfunk. Erliege den Lockungen von schönen Kleidern und guten Düften. Manchmal finde ich das Leben anstrengend.
Ich schreibe ein Buch zum Begriff der Idiosynkrasie. Über jene kleinen, verräterischen Regungen und Impulse, die, wie ich meine, unsere jeweilige Einzigkeit ausmachen. Erstaunlich. Das Buch wird sehr gut aufgenommen. Es trägt mir sogar einen ehrenvollen Preis ein.
Ich gehöre einer Jury an. Ein begehrter Literaturpreis. Ich stöhne. »Tagelang im Fernsehen, das ist doch auch Hölle.« »Warum tust du dir dergleichen noch an?«, fragt ein Freund. »Weil ich wissen will, was ich gekonnt hätte, wenn ich es dauerhaft gekonnt hätte, unabhängig davon, ob dies zu können ich dann gewollt hätte.«
Ich mache das dreimal, dann weiß ich, dass ich es kann.
Ich werde schwächer.
Ich unterrichte nicht mehr.
Ich beantrage eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
Ich verlasse die Universität. Die zunehmende Verschulung der Lehre, die Gängelung der Lernenden machen den Abgang leicht.
»Der Stress steigt, das Niveau sinkt.« Wer hat das gesagt, ich weiß es nicht mehr. Er hat recht. Das ist nicht mehr die Akademie, wie ich sie lieben kann. »Der Geist braucht Raum. Es muss produktive Irrtümer, Umwege und selbstverordnete Korrekturen geben können«, sage ich ins Leere.
»Wie willst du ihn füllen, den ganzen Rentnertag?«, fragt eine Freundin.
Kein Problem. Ich muss nicht arbeiten. Ich werde das tun, was ich ein Leben lang auch schon tat: Lesen, Musik hören. Wenn ich es noch schaffe, gehe ich in die Oper, ins Theater, ins Konzert, ins Kino, in Ausstellungen. Und ich treffe meine Freunde.
Ich werde aufgefordert, ein Buch über das Alter zu schreiben. Ich mache mich an die Arbeit und scheitere in doppelter Weise. Zu schwach, keine Idee. Zu den ganz Schwachen kommen keine starken Ideen mehr. Ausrede nur?
Zudem: »Was soll schon sein, man wird stetig älter und dann stirbt man. Daran ist vorerst nicht zu rütteln.«
»Im Alter ziehen wir in eine gemeinsame Wohnung.« Das ist eine alte Verabredung zwischen mir und meiner Freundin in Berlin. Aber wann ist Alter? »Jetzt«, sagt sie. »Jetzt fängt noch einmal etwas ganz Neues an.« Der Satz macht Mut.
Ich wollte sie eigentlich nur besuchen, werde aber, kaum angekommen, noch schwächer und bleibe es lange, zu krank auch für die Rückreise, zu krank für eigentlich alles.
Sie nimmt mich auf. Ich bleibe in Berlin.
Meine Habseligkeiten werden umgezogen von lieben Freunden.
Meine Bücher sind noch in Frankfurt. An Arbeiten ist nicht zu denken. Um mich ein wenig abzulenken vom Kranksein, beginne ich, mir Notizen zu machen, anknüpfend an mein letztes Scheitern – allein auf die Freigaben meines armseligen Erinnerungsvermögens verwiesen –, wann und wo mir im Laufe meines Lebens bewusst wurde, dass ich täglich älter werde.
Nur für mich. Ein lieber Freund will, dass es ein Buch wird.

»Gehn die armen Herzen einsam unter!«
Erstaunlich. Das Buch ist ein Erfolg. Ein großes wärmendes Mögen.
Ich freue mich. Hätte ich eine Neigung zur Hybris, sie wäre schnell kuriert.
Während der Beifall im Hintergrund noch zu hören ist, befinde ich mich in einem onkologischen Therapieraum und hänge an einer Infusion.
Die bösartige Wiederkehr des Bösartigen.
Ich habe dafür kein Wort. Die Worte aus der Kindheit taugen nicht mehr.
Panik. Zum ersten Mal Panik. Um ihr zu begegnen, schreibe ich Erzählungen, die das Verschwinden umkreisen. Ich senke sie in einen Rahmen. Wieder geht, nach Drucklegung, keine Schmähung auf mich nieder. Erstaunlich. Der Frontenwechsel wird mir nicht verübelt.
Die erneute Erfahrung, wie sprungbereit die Vernichtung lauert, führt mich zu einem Entschluss: Ich werde allein meinen Neigungen und Überzeugungen noch folgen. Im Moment verspüre ich eine Unlust, weitere Körperkatastrophen, die zahlreich waren und nicht lange auf sich warten ließen, aufzulisten.
Ich bin jetzt schon zehn Jahre in Berlin. In dieser Zeit habe ich fünf belletristische Bücher geschrieben. Das rührt mich in Erinnerung an mein frühes poetisches Scheitern. Das hätte ich nicht von mir gedacht. Es mag eitel klingen, aber ich finde das erstaunlich.
»Was schreibst du da?«, fragt meine Freundin.
»Eine Akademie hat mich aufgenommen und erbittet eine Selbstdarstellung.«
»Ist das machbar?«
»Eigentlich nicht.«
»Darf ich es lesen?«
»Das bist du doch gar nicht«, sagt sie.
»Stimmt«, sage ich, »das bin ich nicht, es ist nur die Wahrheit.«