Christian Demand

Kulturphilosoph, Kunsttheoretiker und Publizist
Mitglied seit 2015

Sehr verehrter Herr Präsident, sehr verehrte Mitglieder und Gäste,


kurz nach meiner Zuwahl zu dieser Akademie ließ mir die Geschäftsstelle ein Paket zustellen. Darin lag ein dickleibiger, stierblutroter Sammelband mit fast zweihundert Antrittsreden aus den Jahren von 1962 bis 1999. Wie mir im Begleitschreiben versichert wurde, war er in der Hoffnung übersandt worden, die Lektüre möge mir die obligatorische Abfassung meines eigenen Vorstellungstexts erleichtern. Ob das wirklich ernst und nicht vielleicht doch ironisch gemeint war beziehungsweise wie robust das eigene Selbstbewusstsein gezimmert sein muss, um als Akademie­Novize dieser Leistungsschau literarischer Selbststilisierung ermutigende Impulse abgewinnen zu können, bleibt noch zu ermitteln.
In derart massierter Form damit konfrontiert zu werden, dass alle diesem eigenwilligen Textformat zuträglichen Register rhetorischen Raffinements, alle Kunstgriffe ritueller Hierarchieaffirmation, alle möglichen Typologien des Sich­Zeigens und Sich­Verbergens in jeder nur denkbaren Nuancierung und auf allen Meta­Stufen bereits meisterhaft durchgespielt worden sind, habe ich persönlich jedenfalls als eher lähmend empfunden: So muss es sich anfühlen, wenn man als Gelegenheitsspieler unvermittelt in eine professionelle Pokerrunde gerät. Geradezu die Sprache verschlagen aber hat mir das missionarische Arbeits­ und Leistungspathos, das so viele der Texte wie selbstverständlich grundiert, der heilige Ernst, mit dem darin das Schreiben als Geschick und Schicksal beschrieben wird, als letzter Identitätsanker und Seelengrund, und nicht zuletzt auch die schiere Menge wie in Marmor geschlagener Karriere­Resümees nach dem Muster: »Schreibend fing ich an zu leben.«
»Ich nicht«, höre ich mich da verlegen murmeln, und das, wohlgemerkt, bei allem Respekt. Ich wiederhole das mit dem Respekt sicherheitshalber, nicht dass Sie fälschlicherweise den Eindruck gewinnen, ich wollte mich schnöselhaft über das Pathos eines solchen Satzes lustig machen. Ich kann Ihnen allerdings auch kein Bekenntnis von vergleichbarer existentieller Dringlichkeit anbieten. Ich bin mit meiner Autorenexistenz nicht verheiratet, ich betrachte sie eher als Lebensabschnittsgefährtin. Das schließt Leidenschaft und Hingabe keineswegs aus, rechnet aber mit Alternativen.
Wie weit das Temperamentssache ist und wie weit dem biographischen Zufall zu verdanken, vermag ich nicht zu beantworten. Die irreal friedliche bundesrepublikanische Wohlstandsidylle, in die ich während der 1960er und 1970er Jahre im Münchener Süden hineingewachsen bin, hat mir jedenfalls schon früh und ohne mir nennenswerte Opfer abzuverlangen eine Vielzahl gleichermaßen attraktiver Lebensoptionen eröffnet. Die literarische war eine davon. Die Musik eine andere. Eine Zeitlang habe ich mit etwas Handwerklichem geliebäugelt. Eher zufällig geriet ich dann aber in eine Journalistenschule, von der aus ich zur Philosophie wechselte, nur um anschließend erst einmal lange Zeit in billigen Musikklubs und teuren Tonstudios zu verbringen. Es folgten somnambule Jahre beim Hörfunk, von denen ich auf einer Professur für Kunstgeschichte erwachte, von der ich mich aber schon bald wieder wegstahl. Dass die Entscheidung für eine dieser Existenzen je die für eine andere ausschließen könnte, ist mir erst wirklich bewusst geworden, als ich bereits zum dritten Mal den Beruf gewechselt hatte. Mittlerweile versehe ich den vierten.
Ein solch eklatanter Mangel an thematischer und letztlich auch sozialer Kontinuität formt zwangsläufig das eigene Selbst­ und Weltverhältnis. Mir ist es zur zweiten Natur geworden, die wechselnden Sphären, in die ich meine Energien investiere, aus der Perspektive eines Teilnehmers auf Abruf zu erleben. Ich lebe in einem permanenten Zustand des Dazwischen. Das hält den eigenen Horizont angenehm offen, begrenzt aber zugleich die eigene Wirksamkeit: Die Vielzahl der Felder minimiert den Ertrag. Denn natürlich frisst es eine Menge Energie, wenn man sich im Takt von sieben, acht Jahren immer wieder aufs Neue in einem von Grund auf anderen professionellen Bezugsrahmen wiederfindet, in dem die im vorherigen Umfeld erworbenen Fertigkeiten, Verbindungen und Kenntnisse nur wenig Wert besitzen.
Nicht zuletzt deshalb habe ich weder zum wissenschaftlichen noch zum journalistischen, geschweige denn zum literarischen Betrieb wirklich tragfähige Beziehungen entwickeln können: Ich wirke in kein Fach hinein, ich bin kein fester Bezugspunkt für ein bestimmtes intellektuelles Milieu, ich verfüge über keine Netzwerke, keine Hebel und Strippen, die ich, ob für mich selbst oder auch für andere, nutzbringend einsetzen könnte. Umso mehr bedeutet es mir, trotz alledem in diese traditionsreiche Institution aufgenommen worden zu sein. Ich empfinde Ihr Wohlwollen und Ihre Aufmerksamkeit ohne Einschränkung als Auszeichnung und danke Ihnen dafür. Und ich bin zugleich guter Hoffnung, dass sich die im Moment noch ein wenig prekären Heimatgefühle über kurz oder lang einstellen werden.