Wolfgang Klein

Sprachwissenschaftler
Geboren 3.2.1946
Mitglied seit 2008

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,

»Ich muß gestehen, ich lese nicht zu meinem Vergnügen, ich suche weder Entspannung noch Ablenkung, noch andere Freuden dieser Art.«

Dieses Ich bin nicht ich, es ist Martin Walser, der mit diesen Worten vor gut 40 Jahren einen Essay über Prousts Recherche eingeleitet hat. Ich selber lese fast nur zum Vergnügen, wenn es nicht gerade um Staatsexamensklausuren und dergleichen geht. Rezensionen lese ich keine. Aber wie jeder hier im Saale weiß, heißt zum Vergnügen zu lesen nicht immer, mit Vergnügen zu lesen; noch heißt es, dass die Lektüre nicht über das Vergnügen hinausgeht und Spuren in uns hinterlässt, die viele Jahre wirken – oft ohne dass man es gemerkt hat. Viele Jahre habe ich geglaubt und allen, die es hören wollten, gesagt, das Buch, das mein Leben am meisten bestimmt hat, sei Prousts Recherche. Gelesen habe ich es, als ich sechzehn war, also in jenem Alter, in dem in unserem Kopf die Geleise verlegt werden, auf denen wir dann in den restlichen Jahren hin und her fahren. Es war, als hätte jemand den Deckel vom Leben der Menschen genommen und mich einen Blick ins Getriebe tun lassen. Wenn man Proust gelesen hat, wundert man sich über weniger. Er wundert sich vor allem weniger über sich selbst, wenn es ihm geht wie Swann oder Marcel. Vieles im unsinnigen Verhalten der Menschen, das der anderen und des eigenen, erscheint zwar immer noch merkwürdig, aber man ist nicht mehr so erstaunt. Es ist, als hätte man aus einem medizini­schen Lehrbuch gelernt, wie es zu einer Aphasie kommt. Man versteht, wieso der andere auf einmal so kraus redet, man versteht sogar, dass man selbst so kraus redet und gar nicht sagt, was man sagen möchte; aber man kann es nicht ändern, man kann es nicht ändern. Es ist nun auch schon wieder ein paar Jahre her, dass diese langgehegte Meinung über die nachhaltigste Leseerfahrung erschüttert wurde. Nicht die Recherche war es, sondern eine Geschichte von Mark Twain, die Geschichte Einige gelehrte Fabeln für alte Jungs und Mädels, die ich mit 14 Jahren gelesen habe, noch ein wenig vor Proust. Die Tiere des Waldes senden eine Expedition der aller­bedeutendsten Gelehrten aus, die unter der kundigen Leitung von Lord Langbein und Professor Ochsenfrosch die terra incognita jenseits des Waldes erforschen soll. Die wissenschaftliche Ausbeute ist eine reiche; schon nach drei Wochen, kaum hat man das offene Land erreicht, wird in der Ferne ein endlos langer, hoher Wall entdeckt, dessen Grenzen weder zur Rechten noch zur Linken auszumachen sind. Er wird sehr schnell als die Mauer identifiziert, die den Erdkreis umschließt. Sie war schon oft postuliert worden, nun aber ist sie empirisch nach­gewiesen, eine glänzende Bestätigung der Theorie. Professor Ochsen­frosch selbst ist es, dem diese Erkenntnis zuzuschreiben ist; die weitaus schwierige Frage nach dem Material, aus dem sie besteht, geklärt zu haben, ist freilich das Verdienst seines Kollegen Professor Schnecke (»Ein scharfsinniger Kopf! Ein profunder Geist! Auf die Dauer kann diesem erhabenen Verstand nichts verborgen bleiben.« – so selbst seine ansonsten hämischen Kollegen). Diese Entdeckung des Horizonts – denn darum handelt es sich – ist aber erst der Auftakt, freilich ein bedeutender, zu einer Reihe noch beeindruckenderer – Eisenbahn­schienen (»die Breitengrade«), ein fahrender Zug (»der Durchgang der Tag- und Nachtgleiche«), Brandy (»jenes wütende und zerstörerische Fluidum, das man als Blitz bezeichnet«), Entdeckungen kurzum, die den Umfang des Wissens wohl leicht verdoppeln, viele altehrwürdige Lehrmeinungen richtigstellen und den gelehrten Teilnehmern der Expedition Ruhm, Anerkennung und äußeren Lohn bringen wie kaum einer Wissenschaftlergeneration zuvor. Mark Twains Geschichte ist literarisch nicht besonders gut. Sie verhöhnt die Wissenschaft, die »nur einen Teelöffel von Vermutungen braucht, um daraus ein Gebirge erwiesener Tatsachen zu errichten«; aber nur einige der Beispiele sind witzig, die Effekte wiederholen sich, und zum Schluss versandet die Fabel in einem Lob des gesunden Menschenverstandes, vertreten durch den bodenständigen Mistkäfer. Immerhin ist sie gut genug, einem Vierzehnjährigen, der für derlei gerade in der Prägephase ist, für viele Jahre eine klare Vorstellung vom Wesen der wissenschaft­lichen Erkenntnis zu vermitteln – ohne dass er es merkt. Als ich sie zufällig vor ein paar Jahren wieder­gelesen habe, da war mir, als würde ich, als jemand, der sein Leben der Wissenschaft geweiht hat, in den Spiegel schauen. Die Geschichte hat keinen literarischen Glanz, aber sie hat den fahlen Schein der Wahrheit. Dies betrifft nicht so sehr Autoritäts­hörigkeit, Standes­dünkel, Eitelkeit, Ruhmsucht und derlei mehr, alles Eigen­schaften, die man unter den Gelehrten findet, aber unter andern Menschen auch. Es sind dies jedoch Eigenschaften der Wissenschafter, nicht Eigen­schaften der Wissenschaft, um die sich jene bemühen. Mark Twain macht sich darüber lustig, er hat recht, wir kennen die Kollegen, und sie kennen uns, aber es ist nicht so wichtig. Dass die Wissen­schaftler oft genug schwach sind, hat nichts mit der Seriosität ihrer Bemühungen zu tun. Aber sind diese seriös? Ich will hier nicht von den Geisteswissenschaftlern reden, denen ich selbst angehöre. Wir haben ja ein notorisch schlechtes Gefühl, auch wenn wir es manchmal geschickt kompensieren. Anders, denkt man, ist es in die Naturwissenschaften. Wir wissen heute, wie die Welt entstanden ist, wann und weshalb die Erde erkaltete, wie sich der Mensch aus dem Kreis der anderen Primaten gelöst und zu seiner heutigen Bedeutung aufgeschwungen hat. Wir wissen, wie groß das Weltall ist und wie klein das Quark. Erstaunlich auch, wie schnell sich unser gesichertes Wissen entwickelt. Noch vor hundert Jahren war unter den Kennern unumstritten, dass die Erde höchstens zwanzig Millionen Jahre alt ist – das größte Problem für die Darwinsche Theorie von der Entstehung der Arten. Heute wissen wir, dass es drei Milliarden sind, oder sind es jetzt fünfzehn? Vielleicht werden wir schon bald wissen, dass es sogar hundert Milliarden sind. Die Kinder lernen es in der Schule. Sie können in ihren Physikbüchern nachlesen, wie die Welt entstanden ist, so klar und überzeugend, als sei der Verfasser dabei gewesen, und nur den, der zufällig zur gleichen Zeit Mark Twain liest, mag für einen Moment der Gedanke beschleichen, ob die Theorie vom Urknall vielleicht keinen sehr viel höheren Bestäti­gungs­grad hat als die biblische Schöpfungsgeschichte, ob die Darwinsche Theorie von der Entstehung der Arten nicht das Geringste dazu sagt, wie Arten entstehen, sondern allenfalls, wieso sie manchmal wieder aussterben, ob die bunten Bilder über die Hirnaktivitäten, die wir allenthalben lesen, uns nicht doch nur sagen, an welcher Stelle im Hirn der Blutfluss etwas stärker ist und nicht, was wirklich passiert, wenn wir denken und fühlen. Unseren Anthropologen und Paläontologen ist es, ein wahres Wunder scharf­sinniger Analyse, gelungen, aufgrund eines Unterkiefers aus Java und einiger Fußspuren im südafrikanischen Ton die Früh­geschichte unserer Art zu rekonstruieren. Die Tiere des Waldes entdecken die Telegraphen­leitungen und diagnostizieren sie, Lord Lang­bein voran, als Spuren einer ausgestorbenen Rasse von Riesen­spinnen. Das ist zunächst einmal eine bare Spekulation; dass es eine solche Art gegeben hat, ist auch schon früher vermuten worden. Aber es ist mehr als das: aufgrund der materiellen Beschaffenheit der Funde sowie einiger weiterer sorgfältig aufgearbeiteter Indizien gelingt es ihnen, ein präzises Modell dieser Spezies zu rekonstruieren. Doch die Analogie zu den Wissenschaftlern im wirklichen Leben kann allenfalls einen naiven Vierzehnjährigen in die Irre leiten. Was aber, wenn sich diese Sicht auf die Dinge erhält, wenn man, fehlgeprägt durch Mark Twain wie eine Lorenzsche Graugans, alle wissenschaftlichen Bemühungen, die eigenen eingeschlossen, auf immer so ansieht wie die von Professor Ochsen­frosch, Professor Schnecke und Lord Langbein? Was soll man dem raten? Dasselbe, was man jenem raten kann, der sich durch die Erfahrungen Swanns und Marcels hat prägen lassen: Wir alle verhalten uns zwar oft genug wie Narren, in unseren Gefühlen wie in unserem Versuchen, die Welt um uns zu erkennen und zu verstehen. Aber die Einsicht in die eigene Torheit und in die eigene Beschränkung hilft wenig, so wenig wie dem, der eine Aphasie hat, das Einsicht hilft, dass sie von einem Schlaganfall herrührt. Wir müssen dazu stehen, denn alles andere würde uns nicht helfen, es wäre unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir.