Werner Kraft

Literaturwissenschaftler und Bibliothekar
Geboren 4.5.1896
Gestorben 14.6.1991
Mitglied seit 1972

Sigmund-Freud-Preis

Je älter man wird, um so mehr ziehen sich die Lebensdaten zusammen. Ich bin vor sehr langer Zeit, es ist kaum mehr wahr, in Braunschweig geboren. In Hannover bin ich aufgewachsen, in Frankfurt habe ich promoviert. Dann wurde ich in Hannover Bibliotheksrat auf Lebenszeit, um fünf Jahre später auf Grund des Gesetzes zur Reinigung des Berufsbeamtentums meine Stellung zu verlieren. Ich verließ Deutschland und ging über Stockholm und Paris nach Palästina, dem heutigen Israel, wo ich in Jerusalem bis heute mit meiner Familie lebe. Außer meinen Gedichtbüchern, dem Roman Der Wirrwarr, der jetzt auch ins Italienische übersetzt wurde, und dem Prosabuch Zeit aus den Fugen habe ich drei Essaybände veröffentlicht, Gespräche mit Buber, eine Anthologie Wiederfinden, ein Buch über Kafka, und zwei Bücher über diejenigen Geister, die mich in meiner Jugend aufs stärkste beeinflußt haben, Karl Kraus und Rudolf Borchardt. In diesem Jahr ist bei Beck in München mein Buch über den von mir wiederentdeckten Carl Gustav Jochmann und seinen Kreis erschienen. Darüber möchte ich ein Wort sagen. Jochmann ist 1789 in Pernau in Livland geboren und 1830 in Naumburg gestorben. Abgesehen davon, daß er ein glänzender Prosaschriftsteller und ein fortgeschrittener politischer Geist ist, hat er gleichsam eine neue Frage angebracht. Es war ein für mich denkwürdiger Augenblick, als ich um 1932 in der Bibliothek in Hannover das Buch eines anonymen Autors Über die Sprache herauszog und von dem Kapitel »Die Rückschritte der Poesie« sofort fasziniert war. Die Poesie war die klassische Poesie in ihrer Vollkommenheit, und die Rückschritte, ausschließlich an einem positiven Maßstab gemessen, waren positiv gemeint: die Autonomie der Kunst war durchbrochen. Mein Buch enthält noch ein Hauptkapitel über den von Jochmann verehrten und weniger unbekannten, wenn auch noch lange nicht hinreichend bekannten Grafen Gustav von Schlabrendorf, den deutschen Emigranten in Paris, wie es überall neue Fragestellungen eröffnet.