Gert Hofmann

Schriftsteller
Geboren 29.1.1932
Gestorben 1.7.1993
Mitglied seit 1987

Ich heiße Gert Hofmann und wollte als Kind berühmt werden. Von meiner Mutter, die als Wienerin nach Sachsen geheiratet hatte und dort todunglücklich war, hatte ich ein in rotes Kunstleder gebundenes Bilderalbum, in dem auch der uralte Kaiser Franz-Josef vorkam, wie er sich am Fenster der Menge zeigt und ihr seinen Segen gibt. Ich saß in unserer Wohnküche und wollte einmal ein Franz-Josef werden. Ich erinnere mich, wie mir meine Mutter – sie arbeitete in einem Büro – das stenografische Kürzel für meinen Namen beibrachte und wie ich viele verregnete Tage damit verbrachte, ganze Seiten von Namenskürzeln anzufertigen und auszuschneiden und in Büchsen und Kästchen zu sammeln. Ich wollte die Schnipsel, wenn ich erwachsen war, vom Fenster auf die Menge streuen, damit jeder eine Erinnerung an mich hatte.

Dadurch, daß ein begnadeter amerikanischer Bombenflieger seine Last statt auf mein Geburtsstädtchen auf den haarscharf daneben gelegenen Stadtwald ablud, entging ich später dem Tod. Mein Großvater, ein unermüdlicher Waldgänger und Pilzesucher, starb bald darauf. Er war, als freie Künstlernatur, bei meinem reichen Onkel, der drei Kinos besaß, »Kinoerzähler« gewesen. Kein Wunder, daß ich, der zweite Künstler in der Familie, über all das einmal etwas schreiben würde, aber wie?

Nach meiner Verlegenheitspromotion – ich war von der Universität Leipzig auf die Universität Freiburg gegangen, weil ich da mehr reisen, von Deutschland weiter zurücktreten konnte – heiratete ich und lebte mit meiner wachsenden Familie im Ausland, in Frankreich, England, Mexiko, den USA und Jugoslawien. In Wirklichkeit lebte ich in diesen fünfundzwanzig Jahren natürlich immer in Deutschland, das in meiner Kinderzeit stehengeblieben und zu einem fernen Märchen geworden war. Wenn mein Blick auf das Gegenwartsdeutschland fiel, schien mir, es ist ein putziges, sehr mit sich selbst befaßtes, nicht sehr wichtiges Ländchen, ein tolpatschiges Riesenbaby zweier politischer Blöcke, mit eigenen kleinen, wenn auch ekelhaften Skandalen. Wenn man aber näher hinsah, waren sogar die Skandale nachgemacht. Über solche sehr aktuellen Dinge mochte ich aber sowieso nicht schreiben, ich lasse sie lieber etwas abhängen. Ich denke dabei an unsere riesenhaften Kollegen wie Tolstoi, Flaubert, Thomas Mann oder Musil, die haben auch lieber über gut abgehangene Dinge geschrieben.

Es scheint, daß ich von meiner Wiener Mutter einen gewissen Sprachfimmel, eine gewisse Freude am Formulieren geerbt habe, eine starke Belastung in einem Land, wo der Dichter am besten unverständlich, in Schweißgeruch gehüllt und auf bleiernen Füßen daherkommt. Jedenfalls wurde ich schon als Kind auf die Sprache, diese magische Angelegenheit, aufmerksam, schon dadurch, daß meine Mutter anders als alle sprach und »der Polster« statt »das Kissen« sagte. Warum sagte sie »der Polster«, wo es doch »das Kissen« hieß? Für den Weg vom Dialog zum Prosatext brauchte ich zwanzig Jahre. Was ist Schreiben für mich anderes als das mühsame Beschwören und Neuerfinden vergangener Augenblicke, die nun nur noch aus Wörtern bestehen? Um diesen Vergangenheiten ein zweites Leben zu geben, plage ich mich gewaltig, wenn ich alle Spuren dieser Mühe auch sorgfältig wegradiere. Was ist das für eine unverlangte, überflüssige Prosaqual? Schwer zu sagen in fünf Minuten, viele meiner Bücher handeln davon. Man möchte so »weit« wie möglich gehen – was für ein eigenartiges Wort in diesem Zusammenhang! – in dem Bewußtsein, daß andere – das liegt nun fast schon hundert Jahre zurück – viel weiter gegangen, von uns nie einzuholen sind. Doch hat jeder eben seine eigenen Maßstäbe und Grenzen, jeder muß für sich herausfinden, auf wieviel er verzichten kann von der Schreibtradition vor ihm, was für ihn noch lebt oder schon tot ist. Denn das ist natürlich der einzige Maßstab für unsere Schreiberei. Lebt sie, oder ist sie schon tot. Ich danke Ihnen für meine Wahl.