Fritz Stern

Historiker
Geboren 2.2.1926
Gestorben 18.5.2016
Mitglied seit 1988

Sich vorzustellen ist nicht leicht; es zwingt zum Sich-selbst-Vorstellen – und diese Aufgabe erinnert mich an Nietzsches hartes Wort: »Sich selbst nicht zu erkennen: Klugheit des Idealisten. Der Idealist: ein Wesen, welches Gründe hat, über sich dunkel zu bleiben und das klug genug ist, sich auch über diese Gründe noch dunkel zu bleiben«. Ich werde kaum über das Hell-Dunkle hinwegkommen.

Ich bin in Breslau geboren, und zwar in dem Jahr, das genau in der Mitte lag zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, Jahrgang 1926. In Breslau, das nicht mehr existiert, geboren, geprägt, verstoßen, und mit Erinnerungen ausgestattet, die mein Leben begleitet und geformt haben.

Zwei Jahre im Breslauer Gymnasium lernte ich die vorgeschriebenen Fächer, auch Latein zur Vorbereitung der Emigration, und bekam zu spüren, was aufgepeitschte Intoleranz von Mitschülern bedeuten kann. Ich habe die Erfahrungen von 1933 bis zur Auswanderung fünf Jahre später im Gedächtnis. Ich habe auch Gutes in jenen Jahren erlebt, so die erste Berührung mit deutscher Dichtung, aber im ganzen kann ich nur sagen, daß mit dem Nationalsozialismus meine politische Erziehung begann. Daß Terror etwas Entsetzliches ist, daß Freiheit Lebensnotwendigkeit sein sollte, diese kategorische Sicherheit verdanke ich meiner Kindheit.

Im freien Amerika erhielt ich meine zweite Erziehung. Ich verließ den vorbestimmten Weg: Vater, Großväter und Urgroßväter – alle waren Mediziner, und so fing auch ich an. Meine unüberwindliche Ignoranz der Naturwissenschaften, mein Interesse an Geschichte und Literatur hat mich von meinem vormedizinischen Studium befreit; ich befaßte mich mit europäischer Geschichte der Neuzeit und hatte das Glück, in Lionel Trilling einen Lehrer – später einen guten Freund – zu finden, für den es keinen Unterschied zwischen Geschichte und Literatur gab. Hinzuzufügen ist noch, daß man im Amerika der damaligen Zeit viel besser die gesamt-europäische Kultur verstand, als das in den noch nationalistischen Ländern Europas der Fall war. Wir waren Wahleuropäer, noch bevor es ein Europa gab, wir glaubten damals an eine Weltliteratur.

Daß ich hauptsächlich Historiker der deutschen Geschichte wurde, war akademischer Zufall – wenn auch prädestiniert. Für mich bleiben Geschichte und Literatur untrennbar, auch wenn das meine Zunft als altmodisch empfindet. Auch glaube ich, daß es einer ausgeklügelten Kunst bedarf, um Vergangenheit langweilig zu machen. Bei aller Akribie der Forschung und der Analyse bleibt die Geschichte der Prozeß menschlicher Dramen, und so versuche ich auch die Geschichte zu vermitteln.

In einem etwas diskontinuierlichen Leben gibt es eine ganz bestimmte Kontinuität: das Glück, daß Leben und Arbeit zusammenfallen – das berufliche Bedürfnis ist auch ein persönliches. Der Versuch, gerade auch die deutsche Vergangenheit in ihrer Größe und Tragik zu verstehen, ist ein beinahe angeborenes Anliegen. Auch hat meine Arbeit meinen Kontakt mit Europa vertieft, und dies hat mein Leben bereichert.

Es wäre hochtrabend zu behaupten, ich wäre ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten und Disziplinen. Eher vielleicht ein Fachmensch mit Hang zur Liebhaberei, ein Zeitgenosse, der auch Bürger sein mochte.

Zu Recht fühle ich mich etwas als Außenseiter bei Ihnen, beherrsche ich doch weder Sprache noch Dichtung – und gerade deswegen bin ich der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung dankbar, mich aufgenommen zu haben. Es ist eine Ehre, die noch zu rechtfertigen ist.