Wilfried Barner

Literaturwissenschaftler
Geboren 3.6.1937
Gestorben 22.11.2014
Mitglied seit 1997

Daß einer sich an einer heutigen deutschen Universität mit einem anrüchigen Fach und nicht mit so Handfestem wie Strömungsphysik oder Steuerrecht oder so Lebenerhaltendem wie Thoraxchirurgie befaßt, vielmehr mit etwas so Leichtgewichtigem wie Literatur, noch dazu auch der nach 1945 und bis heute entstandenen, und bequem in der eigenen Muttersprache, und das auf einer staatlichen Planstelle – das muß eigentlich jeden unabhängig Denkenden auf Distanz gehen lassen. Vielleicht doch auch eine selbstbewußte Akademie. Ein Literaturverwalter, der sogar Examina abnimmt und Klausuren korrigiert über Gryphius und Lessing und Büchner und Fontane und Grillparzer und Dürrenmatt und Bachmann und Andersch (gelegentlich auch über hier Anwesende): er gehört gewiß für Literaturliebhaber zu einer dubiosen Spezies. Es handelt sich um eine solche, die in der elaborierten Gattung der sogenannten »Germanistenschelte« mit bewährter Regelmäßigkeit dem allgemeinen Leservergnügen zubereitet wird.
Nun könnte ich mich herauszureden suchen, indem ich sage: Ich bin gar nicht mit Haut und Haaren Germanist, sondern habe noch bestimmte Fluchtzonen, Außenbereiche, von denen ich auch herkomme. Ich habe über etwas Uraltes promoviert, etwas unmäßig Trockenes, über Papyri. Die sind so stocktrocken, daß sie im ägyptischen Sand sogar Jahrtausende überdauert haben. Aber auf diesen Papyri stehen auch zauberhafte griechische Gedichte, um 600 v. Chr. entstanden, von dem Landsmann der großen Sappho auf der Insel Lesbos, von Alkaios. Und griechische Literatur ist für mich Lebenselixier bis heute, ähnlich wie die neulateinische Poesie von Petrarca bis zu Nicodemus Frischlin.
Das hängt möglicherweise auch mit meinem regionalen Herkommen zusammen, das einige von Ihnen scharfhörig vielleicht schon an einem leichten Zungenschlag ausgemacht haben. Ich bin ziemlich genau dort geboren, wo der Rhein in die Niederlande hinüber fließt, in Kleve, wo Römer es sich haben wohl sein lassen und ein wenig auch den Menschenschlag mitgeprägt haben. Aber wichtiger noch war, daß man mit dem Fahrrad in einer knappen halben Stunde an der holländischen Grenze sein konnte, am Ausland.
Ich gehöre zu denen, die den Krieg noch mit endlosen Bombennächten und vielen Toten, auch brennenden Toten, als Kind hautnah erlebt haben. Danach habe ich, als Schüler, auch von den Brennenden in den Vernichtungslagern erfahren. Ich zähle indes auch zu denen, die später, als Hochschullehrer, die Gelegenheit erhielten (die unsere Väter und Lehrer meist nicht hatten), aus der Enge des Deutschlands, das sich selbst abgeschnürt hatte, in gastfreundliche Länder zu gelangen, dort zu arbeiten, zu lehren. So geschah es wiederholt in den Vereinigten Staaten, in Israel, in Australien und anderswo. Die Germanistik, als Muttersprachenphilologie mit ihrer besonderen Vergangenheit, bedarf dieser Außensicht aus evidenten Gründen ganz besonders. Ich bin nicht nur mit Anregungen, neuen Ideen jedesmal zurückgekehrt, auch mit Korrekturen, mit »Zurechtweisungen«, wie Hölderlin das nennen würde. Ich hatte auch die Gelegenheit, mich an der Institutionalisierung solcher Begegnungen, auch in Gruppen von Wissenschaftlern, zu beteiligen: der sogenannten »bilateralen Germanistentreffen« des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, über viele Jahre.
So ließ sich noch im November 1988 hier in Budapest,* ganz kurzfristig, das erste Treffen in einem Land des Warschauer Pakts arrangieren, mit einer hinreißenden organisatorischen Phantasie von den ungarischen Kollegen mit vorbereitet – es war eine Aufbruchstimmung sondergleichen, noch einige Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, eine Stimmung, die unter die Haut ging. Und wo wir tagten, in der Eötvös-Lóránd-Universität, wurde – zum ersten Mal (wie man mir sagte) in der Geschichte dieser Universität – gestreikt. »Strajk!« verkündeten überall Wandplakate und -zeitungen. Punkt 4 des Streikkatalogs – ich erinnere mich genau, denn ich habe ihn mir erklären lassen – lautete: bessere Bezahlung der Professoren, die zum Teil von Hungerlöhnen leben mußten, das heißt meist nicht leben konnten.
Das verändert für mehr als einen kurzen Moment die Perspektive eines deutschen Germanisten, der unter Studierendenmassen und fast täglichem Administrationswahnsinn stöhnt. Ich bin ein Universitätsmensch. Die Institution Universität ist, der Idee nach, eine der kreativsten Einfälle der Menschheit. Es gibt in Deutschland nicht nur die Germanistenschelte, es gibt auch die Universitätenschelte, an der ich mich auch mitunter beteilige. Es ist richtig: Nicht nur alle Nationen sind »scheußlich« (gemäß dem Grafen Keyserling), sondern auch alle Universitäten. Aber es gibt Scheußlichkeiten mit Restschönheiten. Wenn es – wie in Göttingen, wo ich lehre – gelingen kann, einen renommierten Mediziner dafür zu gewinnen, vor fünfhundert Leuten fesselnd über Thomas Manns Zauberberg zu reden, oder einen Juristen, brillant Epigramme Martials aufzudröseln, dann ist diese Universität zwar aus mancherlei Gründen bedroht, aber noch nicht tot. Und noch eine engperspektivische These für die Akademie, der ich danke, daß sie sich noch einen Germanisten zugelegt hat: Hätten wir die Universitäten nicht, hätten wir insonderheit die Germanistikstudierenden nicht, so hätte die deutsche Literatur – sehr vorsichtig geschätzt – einige zehntausend Lesende weniger. Ich gebe mir Mühe, ungefähr täglich, daß es eher mehr werden; und ich danke.