Felicitas Hoppe

Schriftstellerin
Geboren 22.12.1960
Mitglied seit 2007

Georg-Büchner-Preis

Hier mein Leben: Mit sieben lernte ich schreiben. Meine ersten Gedichte heißen »Die Tulpe«, »Der Esel«, »Der Stern« und »Satan in der Hölle«. Es folgten Tier- und Familiengeschichten. Mit zehn schrieb ich meine erste Autobiografie, sie besticht durch Kürze. Mit zwölf schrieb ich einen Zirkusroman. Was folgt, ist unerheblich: Berge von Kurzgeschichten, Erzählungen, die von unglücklichen Menschen bevölkert sind. Das Tagebuch gab ich mit dreizehn auf, ich fürchte mich vor der Selbstzensur und misstraue bis heute dem Selbstgespräch. Ich debütierte spät, mit Mitte dreißig, was sich als vernünftig erwies.

Aber schöner als alles, was ich je geschrieben habe, sind meine Postkarten, denn sie zeigen ehrliche Ansichten. Die Rückseiten entfallen, meine Handschrift ist schwungvoll und schön, deshalb selten entzifferbar. Meine letzte Postkarte, ich weiß nicht mehr wem, schrieb ich kurz vor Weihnachten, vermutlich aus Übersee, ein Fundstück aus meiner Heimatstadt Hameln. Sie zeigt den Rattenfänger, kühn ins Grüne geschnitten die Mütze, Flöte voran, das linke Turnerbein steil in die Höhe gestreckt. Dahinter, unter grauen Kapuzen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, meine vier Geschwister und mich, eine kurze Kette spitzfindiger Ratten, fünf furchtlose schlecht getarnte Mönche, die erst in der Weser ersaufen müssen, um danach gerettet zurückzukehren.

Jetzt bin ich getauft und also unsterblich und höre einfach nicht auf zu sprechen. Sie könnten mich jederzeit nachts aus dem Schlaf holen, und ich rufe: Sie wollen meine Geschichte? Da ist sie. Aber sobald ich halbe Wahrheiten sage, bekanntlich die besten Geschichten von allen, treten durch die schmaler werdende Tür meiner Erinnerung lauter Kinder, die der Rattenfänger nicht mitnehmen will. Er trug einen Rock von buntem Tuch und versprach, gegen ein gewisses Geld, die Stadt von allen Ratten und Mäusen zu befreien. Die Bürger wurden schnell einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff, da kamen die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervor gekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wären keine zurück, ging er los, der ganze Haufen ihm nach. So führte er sie an die Weser, schürzte seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm all die Tiere folgten und ertranken.

Nachdem die Bürger von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, sie verweigerten ihn unter allerlei Ausflüchten, sodass der Mann zornig und erbittert fort ging. Im Juni, gegen morgens um sieben, nach andern allerdings erst zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, das Gesicht schrecklich und schön, mit einem wunderlichen roten Hut auf dem Kopf, und ließ wieder seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mädchen vom vierten Jahr an in großer Anzahl gelaufen, darunter auch die fast schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, der bei uns nach wie vor Koppenberg heißt.

Das hat ein Kindermädchen gesehen, das von fern mit einem Kind auf dem Arm nachgezogen war, danach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Ein Schreien und Weinen erhob sich, die Eltern liefen vor die Tore und suchten ihre Kinder. Boten wurden zu Wasser und Land und Luft an allen Orten herumgeschickt, um zu erkunden, ob man die Kinder gesehen hatte, aber alles vergeblich. Einhundertunddreißig waren verloren.

Nur zwei sollen, wie einige behaupten, sich verspätet haben und also zurückgekommen sein, wovon das eine blind und das andere stumm gewesen ist, sodass das Blinde den Ort nicht hat zeigen können, nur erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären. Das Stumme hat aber die Hand ausgestreckt und den Ort gewiesen. Und dann war da noch ein kleiner Knabe, der trug nur ein Hemd und kehrte um, seinen Rock für die Reise zu holen. Als er zurückkam, waren die anderen verschwunden.

Dieser Junge bin übrigens ich, denn ich bin im Dezember geboren, und ich rechne mit Kälte. Aber sobald ich anfange, von meinem Mantel zu sprechen, der rot ist und lang bis auf die Knöchel und vier große Taschen hat, zwei davon auf der Brust und zwei auf dem Rücken, gibt es Streit. Die Tochter des Bürgermeisters behauptet, ich käme in dieser Geschichte nicht vor, ich hätte mich und den Mantel nur dazu erfunden. Auch sei das stumme Kind gar nicht stumm gewesen, sondern einfach nur lahm. Meine schreckliche Neigung, die Dinge falsch nachzuerzählen, weil ich immer alles einkleiden, wärmen und verbessern will. Ich bin und bleibe ein Winterkind, ich bin mit dem Leben nicht einverstanden.

Also bestieg ich ein Schiff und begann zu lesen: Polo, Collodi, Mandelstam, Grimm. Landgänge sind seither selten, auch Besuche in meiner Heimatstadt Hameln. Trotzdem dringt dies und das an mein Ohr, kürzlich jenes: »Liebe Frau Hoppe, vergessen Sie nicht, dass Sie die einzige deutsche Schriftstellerin mit einer glücklichen Kindheit sind.« Wahrheit und Vorwurf von Provinz zu Provinz, die mich fast zwanzig Jahre wie einen doppelten Fehler beheimatet hat und der ich meine Handschrift verdanke: »Glücklich« ja, »einzig« nein.

Dass Sie mich trotzdem zugewählt haben, dafür gebührt Ihnen herzlicher Dank. Also schreibe ich weiter.