Wolf Lepenies

Soziologe
Geboren 11.1.1941
Mitglied seit 1986

Soziologe bin ich von Beruf, Historiker aus Neigung. Mein Interesse galt, es gilt noch heute, sozialen Konflikten und geschichtlichen Konstellationen, in denen die Literatur das Leben und das Werk gelehrter Autoren bestimmt.
Die französische Fronde: ein gescheiterter Adelsaufstand, den die Monarchie des 17. Jahrhunderts triumphierend übersteht, und doch geht ein großer Besiegter siegreich aus ihr hervor, La Rochefoucauld, der Melancholiker, der das Schreiben als Ersatzhandlung wählt und der die Moralistik auf Erkenntnishöhen führt, die keine Moralwissenschaft mehr erreichen wird. Die Auseinandersetzung zwischen Buffon und Linné, die die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts prägt: dichterisch ausschweifend, büßt der Zoologe mit seiner Reputation, während der kalte, der klassifizierende Botaniker allen künftigen Systemen seinen Stempel aufdrückt. Und doch sammelt er, Linné – heimlich, voller Leidenschaft, verborgen vor der Profession – lehrreiche Geschichten für den Sohn, die posthum zu einem Buch sich zusammenlegen, das mit seinem Bibelrhythmus zu einem Klassiker der schwedischen Literatur wird: Nemesis divina.
Über Melancholie und Naturgeschichte schrieb ich, über Utopie und Anthropologie und immer wieder über das Dixhuitième, jene Epoche, in der die Soziologie noch keinen Namen hatte. So schrieb ich mich an den Rand der Disziplin.
Zuhause fühlte ich mich in der Maison des Sciences de l’Homme in Paris und im Institute for Advanced Study in Princeton, und schließlich kehrte ich nach Hause, nach Berlin zurück, ans deutsche Institute for Advanced Study, ans Wissenschaftskolleg zu Berlin, dessen Gründungsrektor, der mich berief, sich Ihnen heute, heute erst, ebenfalls vorstellt.*
Paris, Princeton und Berlin machten mich mit drei Kulturen vertraut, in denen die Soziologie ihr prekäres Gleichgewicht zwischen der Literatur auf der einen, der Naturwissenschaft auf der anderen Seite zu finden suchte. Das Thema dieser Frühjahrstagung legt es nahe, auf einen weiteren, einen die Soziologie einschließenden, sie übergreifenden Zusammenhang hinzuweisen. Unter Führung der experimentellen Disziplinen entsteht die moderne Wissenschaft in den großen Akademien des 17. Jahrhunderts in einem Akt der Entmoralisierung, ausgedrückt im Versprechen der Wissenschaftler gegenüber dem die Wissenschaften fördernden absoluten Souverän, ein normatives Erkenntnisinteresse vom Forschungsprozeß ein für alle Mal abzukoppeln. Zugleich vollzieht sich eine Art »Ent-Literarisierung«, die literaturnahe Wissenschaftsformen von nun an aus den Einzeldisziplinen verbannt.
Diese Koinzidenz legt eine trügerische Schlußfolgerung nahe: zwar wächst heute die späte Einsicht, daß wir einer neuen Wissenschaftsmentalität bedürfen, zugleich aber wird die Illusion genährt, der Erwerb dieser Mentalität könne gefördert werden, indem man Literatur und Wissenschaft zu trüben Genres mischt. Mehr als die Gegenaufklärung, die noch rational zu argumentieren wußte – das postmoderne Geschwafel, das weder gute Literatur noch gute Wissenschaft ist, stellt die Aufklärung in Frage.
Auf diesen Tatbestand aufmerksam zu machen, steht einem Sozialwissenschaftler an, dem die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die Ehre erwiesen hat, ihn zu ihrem Mitglied zu berufen. Ich danke Ihnen.