Lyrikerin und Übersetzerin
Geboren 6.4.1979
Mitglied seit 2017
Meine Damen und Herren,
ich habe einmal eine Form erfunden, die ich guessay nannte, eine Art
Unterbietung des Essays in seinem Versuch, ein Versuch zu sein. Den
ersten schrieb ich 2007 in New York für einen Begleittext der gemeinsam mit Steffen Popp übersetzten Gedichte von Christian Hawkey. Wer das englische Verb to guess nachschlägt, darf, geleitet vom mittelenglischen gessen, irgendwo zwischen »schätzen« und »zielen« Platz nehmen und wird unterrichtet, das Präteritum guessed nicht mit dem Homonym guest, der Gast, zu verwechseln. Gerade in dieser Verwechslung aber scheinen sich meine Texte seit Jahren einzurichten wie im Gondel-G des guessays, einer Seilbahn, die sie Formen, Sprachen und Ländern als Gast zuträgt, was ungefähr hieße, nie ganz gehalten und zugleich im Anderen überall emphatisch und potentiell mitenthalten zu sein. Als wäre die Möglichkeit, jenes und zugleich ein anderes zu sein, ein Grundrecht, das ich nicht nur im Übersetzen – im Dichten mit Zielsprache –, sondern auch im Dichten – im Übersetzen ohne gesicherte Zielsprache – zu praktizieren versuche.
Vom guessay erzähle ich nur, weil ich hoffe, eine geschätzte Verwechslung möge mich heute von der Aufgabe erlösen, Ihnen meine Person vorzustellen. Könnte ich mich nicht lieber nachstellen? Es läge durchaus nahe, sich nachzustellen, wenn man aus einem Land kommt, das es nicht mehr gibt. Man lebt dann gewissermaßen in disparaten Zeiten, mit der niemals zu Ende empfangenen Erinnerung und dem niemals zu Ende zugestellten Augenblick der Gegenwart. Dazwischen schweben Empfänger, die nichts von ihren Sendern wissen, und Sender, die ihre Kanäle vermissen – eine unermessliche Vielzahl von Anfängen, sanft, offen, auf verstörende Weise vertraut, wie gondelnde Wolken.
Das Land, das es nicht mehr gibt, das sind eigentlich zwei Länder. Ich komme aus der Deutschen Demokratischen Republik, und einer
Verwechslung zufolge komme ich auch aus Polen. Aber nur dem, aus
dem ich nie kam, als man noch dachte, dass ich wegen meines Debütbands kochanie ich habe brot gekauft aus Polen käme. Das normale Polen gibt es natürlich noch. Das Polen, aus dem ich nie gekommen bin, ginge so: Meine schlesische Großmutter, eine junge Lehrerin, unterm Arm das in grünen Riffelstoff eingerollte Tafelsilber, dreht sich, bevor sie für immer das väterliche Eisenbahnerhäuschen am Oderknie verlassen muss, noch einmal um, reicht der eben ankommenden ukrainischen Großmutter der kanadischen Dichterin Erín Moure den Schlüssel zu ihrem Haus, dann trinken sie noch einen Kaffee, lesen ökumenisch aus dem Kaffeesatz und schreiben auf Chachlackisch eine Postkarte an die Mutter des Dichters Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki im Landkreis Przemyskie, dem polnisch-ukrainischen Grenzland. All diese Lebensläufe, Fluchtlinien und Neuanfänge fließen merkwürdigerweise in den Texten zusammen, an denen ich mich dialogisch entlangschreibe oder die ich übersetze, als wäre Dichtung ein Archiv dieser unermesslichen verstörten Anfänge oder zumindest Posteinlaufstelle translationaler Sendungen
aller Provenienz.
Und dann nahm ich kürzlich, beim mittäglichen Abflug von Tegel nach Wien, tatsächlich zum ersten Mal aus der Luft genauestens den
Schnörkel der Plattenbausiedlung gewahr, in dem ich aufgewachsen bin. Direkt am grünen Flusen der Wuhle. Verblüffend klar und irgendwie auch schön, in seiner nicht ganz geschlossenen Ringform, wie ein gekräuselter Zeigefinger oder voynischer Schriftzug unter ähnlichen Schriftzügen. Zuordnen konnte ich den Block freilich nur, weil mir die weiße, weithin sichtbare, »die Wolke« genannte Struktur auf dem nahe gelegenen Kienberg den Weg wies. Dieser Hügel entstand aus dem Abraum der in meinem Geburtsjahr 1979 begonnenen Plattenbausiedlung Kaulsdorf Nord I im Osten Berlins. Die unwahrscheinliche Aussichtsplattform »Wolke« verdankt er der Internationalen Gartenausstellung von 2017, die ihn außerdem mit einer Seilbahn und Berlins erster Sommerrodelbahn versah.
Als ich vor einem Jahr, nach der Rückkehr aus zehn Pendeljahren New York und en route nach Rom, zum ersten Mal in dieser Seilbahngondel
aufwärts schwebte, über die Ausläufer der Marzahner Gärten der Welt und die oberirdischen geführten blitzenden Fernwärmerohre, der Wolke entgegen, von deren höchstem Punkt sich der Blick der Betrachterin in ein Meer aus Großwohnbauten versenken kann, hatte ich das Gefühl, in einen rückwärts abgespielten Science-Fiction-Film übersetzt zu werden. Ich weiß bis heute nicht, warum. Handelte es sich bei der Seilbahn in Wirklichkeit um eine Zeitbahn, mit der man in ein verschwundenes oder verwunschenes Land reisen konnte? Hatte mein kleiner privater Kienberg, an dessen Abraumerde ich mir als Kind
mehrmals die Knie aufschnitt, weshalb es auch ein Knieberg war, heimlich schon immer im Zentrum des Weltgartens gestanden? Oder war es, weil ich an der Wuhle meine ersten Gedichte geschrieben hatte, an die Fernwärme von Nelly Sachs, Gertrud Kolmar oder Else Lasker-Schülers Zeilen gelehnt ? Weil ich hier, im Schatten der Schweriner Platten, gelernt hatte, um mit Walter Benjamin zu sprechen, »in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen«? Weswegen ich nun nicht in die Wolke, sondern in meine eigenen Wortmummungen hinauffuhr? The guessay only knows. Ich danke Ihnen für die große Ehre, die Passagierin dieser Seilbahn bis in die Akademie fahren zu dürfen.