Schriftsteller
Geboren 31.3.1951
Mitglied seit 2024
Meine Damen und Herren,
Als Schriftsteller, der sich in Belgien auf Niederländisch ausdrückt - also als flämischer Dichter -, bin ich mir des gemischten Charakters meiner Kultur sehr wohl bewusst. Flämisch zu sein bedeutet: zum germanischen Sprachraum zu gehören, aber in einer Nation zu leben, deren vorherrschende Sprache während eineinhalb Jahrhunderten Französisch gewesen ist. Ich habe bereits in der Grundschule Französisch als zweite Sprache gelernt; Flamen meiner Generation haben in der Oberstufe ihre Abschlussprüfungen über Lamartine, Baudelaire oder Gide auf Französisch abgelegt. Wir hatten also noch einen lateinischen kulturellen Hintergrund, im Gegensatz zu den niederländischen Dichtern: die literarischen Vorbilder meiner nördlichen Nachbarn sind eher angelsächsisch. Flamen und Niederländer sprechen also zwar dieselbe Sprache, aber ihre Literaturen weisen unterschiedliche kulturelle und stilistische Merkmale auf.
Obwohl die Flamen demografisch eine Mehrheit in Belgien bilden und zusammen mit den Niederländern eine Sprachregion von etwa 26 Millionen Niederländischsprechern bilden – quantitativ die achte Sprache in der Europäischen Union – ist ihre Sprache in der Hauptstadt Brüssel eine Minderheitensprache; diese nationale Zweideutigkeit macht den Flamen die Andersartigkeit ihrer eigenen Kultur und Identität fortwährend bewusst.
In Brüssel werden heute mehr als 100 Sprachen gesprochen, und etwa 180 Nationalitäten leben dort durch- und miteinander. Damit ist die Stadt die drittgrößte der Welt, was Mehrsprachigkeit und Multikulturalität angeht. Brüssel ist also ein zeitgenössisches Laboratorium für die Zukunft, ein Turm zu Babel, der auch große Herausforderungen für die Organisation einer demokratischen Gesellschaft mit sich bringt.
In Belgien leben ist also in der heutigen polyglotten Welt ein kultureller Vorteil, und für einen Dichter ist es eine Quelle der Offenheit und selbstverständliche Interkulturalität. Die Zugehörigkeit zu einer sprachlichen Minderheit im europäischen Kontext bedeutet, dass man mehrsprachig werden muss – die Welt ist für diejenigen, die Minderheitensprachen sprechen, von klein auf polyglott, weil sie gezwungen sind, die Brücke zu überqueren.
So habe ich als junger Dichter sowohl die englischen Romantiker auf Englisch, die Poesie von Paul Valéry und Stéphane Mallarmé auf Französisch, die großen deutschen Dichter Hölderlin, Trakl, Benn und Rilke auf Deutsch in meinen Blutkreislauf aufgesogen; außerdem habe ich das Spanisch von Dichtern wie Jorge Luis Borges oder das Italienisch von Pavese erkundet, wenn auch unzureichend und mit dem Wörterbuch zur Hand. Nicht nur ihre Gedanken berührten mich, sondern auch ihre eigene Sprachmusik und das rein körperliche Gefühl für ihre Sprache. All diese fremden Klänge, diese so unterschiedlichen Gedankengänge, der kulturell unterschiedliche Sinn für Rhythmus und Satzbau drangen so in meinem persönlichen literarischen Stil. Ich vermute, dass dieser eklektische Hintergrund mir vor allem ein Gefühl für die Fluidität meiner eigenen literarischen Sprache gegeben hat – die schließlich auch meine Muttersprache, meine intimste Sprache geblieben ist. Kulturelle Identität ist nichts anderes als das Ergebnis dieser sprachlichen Position; wenn wir uns für sie öffnen, verändert sich auch unsere Vorstellung davon, was es bedeutet, in einer sich rasch verändernden Welt ein Individuum zu sein. Was Gilles Deleuze eine „littérature mineure“ nannte, ist also immer auch eine Literatur der Empfänglichkeit. Über Grenzen nachzudenken bedeutet, über die Möglichkeit nachzudenken, den Anderen in sich selbst zu erleben.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns an einem Punkt, an dem sich fast täglich drastische geopolitische Veränderungen ergeben. Währenddessen donnert die Klimakrise weiter, die Biodiversität bricht fast stündlich zusammen. Was wir schon immer Welt genannt haben und was Erde eigentlich ist, kommt in Konflikt miteinander; keine andere Generation als die unsere hat jemals eine so radikale ökologische und planetarische Umwälzung erlebt. Überdies verschlechtert sich das demokratische Bewusstsein der Bürger weltweit in atemberaubendem Tempo. Wir leben in einer Welt, die schnell unsicher wird. Dies zwingt uns als Schriftsteller dazu, Verantwortung zu übernehmen und unsere Besorgnis über das, was mit Welt und Erde geschieht, zum Ausdruck zu bringen.
Jeder Schriftsteller ist in erster Linie ein Bürger, der das Privileg hat, eine Plattform zu haben, auf der er seine Meinung kundtun kann. Das versetzt uns in die Lage, durch die Kunst fortwährend ein gesellschaftliches Bewusstsein zu pflegen durch ein ästhetisches Bestreben, das immer auch ein politisches Bewusstsein impliziert. Zur Welt kommen, ist zur Sprache kommen, wie Peter Sloterdijk es damals formuliert hat.
Deshalb bin ich der Deutschen Akademie besonders dankbar, dass sie mich in ihre ehrwürdige Institution aufgenommen hat – eine Plattform, die es uns ermöglicht, uns Gehör zu verschaffen.
Ich danke fürs Zuhören.