Thomas Macho

Kulturwissenschaftler und Philosoph
Geboren 2.7.1952
Mitglied seit 2023

Sigmund-Freud-Preis

Sehr geehrtes Präsidium und sehr geehrte Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, liebes Publikum!

Zu Beginn meiner kleinen Rede will ich mich sehr herzlich bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dem Präsidium und allen Mitgliedern, bedanken für die Wahl zum neuen Mitglied. Die Nachricht habe ich übrigens am selben Tag erhalten, an dem ich meinen Abschied als Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) Wien öffentlich angekündigt habe. Kurz zu meiner Vorstellung: Aufgewachsen bin ich – mit meinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwester – in einer Wohnung im Wiener Bezirk Favoriten, nahe vom Matzleinsdorfer Platz. Diese Wohnung bestand aus drei Zimmern (neben Küche und Bad); mein Bruder Johannes und ich schliefen und lernten im mittleren Zimmer. An der Fensterwand stand ein Stutzflügel der Firma Ehrbar, den ich immer noch besitze, obwohl er inzwischen restlos verstimmt ist. Dieser Flügel trennte die schmalen Arbeitsbereiche für meinen Bruder und mich. An den drei anderen Wänden führten Türen ins Schlaf- und Wohnzimmer der Eltern, ins Vorzimmer und in das Zimmer der drei jüngeren Geschwister.

Im Alter von achtzehn Jahren bin ich in eine Wohngemeinschaft in der Wiener Gumpendorferstraße gezogen und lebte zum ersten Mal in einem eigenen Zimmer. Ich studierte danach – ab dem Wintersemester 1970/71 – ein Semester lang Germanistik und Geschichte, danach Musikwissenschaft an der Universität Wien. Nach Abschluss des Grundstudiums ging ich 1973 – zunächst als Wissenschaftliche Hilfskraft – an das Institut für Philosophie der damals noch jungen Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt. Im Oktober 1974 und im Januar 1975 starben meine Eltern überraschend früh. Ich selbst arbeitete intensiv an einer Dissertation zur Musikphilosophie und wurde Anfang 1976 an der Universität Wien promoviert. Vier Jahre später ging ich mit einem DAAD-Forschungsstipendium nach Frankfurt am Main; dort schrieb ich an einem Buch zu Todesmetaphern, mit dem ich mich 1984 in Klagenfurt für das Fach Philosophie habilitierte; das Buch wurde 1987 in der Edition Suhrkamp publiziert.

Wenige Jahre später erzählte mir Peter Heintel, der damalige Ordinarius für Philosophie und Gruppendynamik in Klagenfurt, er habe das Zentrum für Friedensforschung im südburgenländischen Stadtschlaining besichtigt und plane dort die Errichtung einer Abteilung des neugegründeten Instituts für Fernstudien (IFF), um die Friedens- und Konfliktforschung zu fördern; er suche nach einem Leiter dieser Abteilung. Ohne lang zu überlegen habe ich mich für diese Leitungsposition beworben und ging dann für sechs Jahre, nach dem Leben in der Großstadt Wien und der Kleinstadt Klagenfurt, in ein Dorf mit einer alten und imposanten Burg, wo ich zahlreiche Tagungen organisieren und einige Forschungsprojekte, gemeinsam mit meiner Assistentin Ina Horn, verfolgen konnte. 1993 erhielt ich schließlich den Ruf auf eine C4-Professur für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin, und nach meiner Pensionierung im Herbst 2016 leitete ich dann bis zum 1. Oktober 2023 das IFK, das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, das seit 2015 zur Kunstuniversität Linz gehört.

Während der Arbeit an meinem Buch zur Kulturgeschichte des Suizids, erschienen 2017 im Suhrkamp Verlag, hat mich ein Zitat aus den Schriften des ehemals versklavten Stoikers Epiktet begleitet; es beginnt mit dem Satz: »Die Hauptsache ist, vergiss nicht, die Tür steht offen.«[1] Ich kürze ab und schließe den Kreis zum Anfang dieser kurzen Vorstellungsrede. Ich kann mich an viele Gespräche mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen, Doktorandinnen und Doktoranden, erinnern, in denen ich wiederholt den Ratschlag gab, auf Türen zu achten, die sich öffnen – und sie möglichst zu durchschreiten. Diesen Ratschlag hatte ich zuvor selbst befolgt: von der Musikwissenschaft zur Philosophie (und daneben zur Gruppendynamik und Organisationsberatung), zur Friedens- und Konfliktforschung, sowie zuletzt zur Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte, von der Großstadt in die Kleinstadt, auf ein Dorf und wieder in die Großstadt. Doch erst bei der Vorbereitung dieser kleinen Rede ist mir das Zimmer mit den drei Türen wieder eingefallen, in dem ich aufgewachsen bin. Umso mehr freue ich mich jetzt, dass mir, wenige Tage vor meinem 71. Geburtstag, die Öffnung der Tür zur Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung angekündigt wurde.


[1]Epiktet: Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Rainer Nickel. Zürich: Artemis 1994. S. 165.