Ernst Schönwiese

Schriftsteller
Geboren 6.1.1905
Gestorben 4.4.1991
Mitglied seit 1956

Wenn ein fünfundachtzigjähriger Autor aufgefordert wird, das zur Zeit seiner Aufnahme in die Akademie noch nicht übliche »Ritual« des Sich-Vorstellens nachzuholen, dann kann es sich dabei nur um einen kurzen Lebensrückblick handeln, der aber schon mit der Auswahl des Erinnerten einer solchen »Vorstellung« zu entsprechen beginnt.

Meine Erinnerungen reichen zurück in die letzten Jahre der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Auf meinen ersten Dokumenten ist noch das »K. und K.« zu lesen, aus dem Musil das Wort Kakanien gebildet hat. Der Tag, an dem das Thronfolgerpaar in Sarajewo einem Attentat zum Opfer fiel – ich war damals neun Jahre alt –, ist mir in sehr lebhafter Erinnerung geblieben. Und ebenso vieles, das ich in den folgenden Jahren erlebte oder etwa während des stundenlangen Anstehens um Brot oder Fleisch aus den Gesprächen der Wartenden erfuhr. Die Demonstrationen während des Prozesses gegen Friedrich Adler, der den Ministerpräsidenten erschossen hatte, zählen zu den Eindrücken, die mein politisches Bewußtsein sehr wesentlich bestimmt haben. Und nicht zuletzt war es die Lektüre der roten Hefte der Fackel von Karl Kraus, die mich in entscheidender Weise geprägt hat.

Als Lyriker war mein Vorbild – im Gegensatz zu beinahe allen meiner Generationsgenossen – nicht Rilke, sondern Rudolf Borchardt. Meine erste Gedichtsammlung war 1937 im Manuskript mit einem Preis der Universität Wien ausgezeichnet worden, konnte aber erst zehn Jahre später, 1947, veröffentlicht werden. Nicht zufällig ist eines meiner Bücher mit neun Steinzeichnungen von Ernst Barlach erschienen. Das Lebens- und Weltgefühl dieses großen Mystikers hat mich immer sehr angezogen und bewegt.

Meine poetologischen Überlegungen und mit ihnen die Hauptimpulse zu meinen eigenen Arbeiten habe ich in meinen Poetikvorlesungen unter dem Titel Dichtung als Urwissen des Menschen dargestellt. Sie führen, von Martin Buber und Karl Kraus ausgehend, über Musils Theorie vom »Anderen Zustand«, Hermann Brochs Unterscheidung zwischen denkerischer und dichterischer Erkenntnis und Kafkas Bewußtsein vom »Unzerstörbaren« zu Elias Canettis »Leidenschaft der Verwandlung« und Jean Amérys »emotivem Sinn«. Hinter all diesen Gedankengängen steht eine lebenslange Suche nach einer allgemein verbindlichen Urwahrheit vom Sinn des Lebens, eine Erfahrung, die von aller echten Dichtung tradiert wird. In diesem Zusammenhang habe ich mich auch intensiv mit fernöstlicher Religiosität, besonders dem Zenbuddhismus, beschäftigt und mehrere Bücher dieser Thematik übersetzt. Auch die von mir übertragenen Gedichte des Spaniers Juan Ramón Jiménez: Falter aus Licht, und die späten und letzten Gedichte von D. H. Lawrence: Der Atem des Lebens vermitteln ähnliche Lebenserfahrungen.

Von 1935 bis zur Besetzung Österreichs durch Hitler und dann wieder von 1946 bis 1952 gab ich die Literaturzeitschrift das silberboot heraus, in der Erstveröffentlichungen von Kafka, Musil, Broch, Borchardt, Gütersloh, Werner Kraft, Canetti, Albrecht Schaeffer, Julius Bab und vielen andern erschienen sind und die als ein Brückenschlag über den Abgrund der Jahre vor allem auch den Exilautoren offenstand.

Von meinen sonstigen literarischen und kulturpolitischen Aktivitäten sei erwähnt, daß ich vor dem Krieg ein kleines Theaterchen geleitet habe, das immerhin u. a. Hofmannsthals Fragment Eduard und die Mädchen und Robert Neumanns Dramenparodien uraufgeführt hat. – Ich habe über hundert Hörspiele inszeniert, darunter erstmals für Österreich Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus. Brochs Entsühnung und Werfels In einer Nacht sind in meiner Fassung auch in Buchform erschienen. – Ich war einige Jahre Präsident des österreichischen PEN-Clubs und bin Vizepräsident der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft.

Aber ich möchte lieber noch von persönlichen Begegnungen sprechen, die für mich von Bedeutung waren und die mich daher nicht weniger »vorstellen« als Andres. Ich nenne Hermann Broch, dem ich schon in den dreißiger Jahren nahe verbunden war und von dem ich vieles nicht nur für meine literarischen Arbeiten, sondern auch an Allgemein-Menschlichem gelernt habe. Meine Erinnerungen an Hermann Broch, mit Zitaten aus über hundert unveröffentlichten Briefen, wurden 1986 publiziert.

Ich denke in großer Herzlichkeit an die Gespräche mit Hermann Kasack zurück, unter dessen Präsidentschaft mir die Auszeichnung zuteil geworden war, in die Akademie gewählt zu werden.

Der Besuch in Montagnola bei Hermann Hesse lebt in meiner Erinnerung mit vielen bewegenden Gedanken. Unvergessen aber auch der so nebenbei hingeworfene Satz: »Duden, das ist ein Dogmenbuch für Buchdrucker, aber nicht für Schriftsteller.« Und ich sehe noch vor mir, wie Hesse, nicht ohne eine gewisse patriarchalische Feierlichkeit, selber die Jausentorte anschnitt.

Oft sind es solch kleine, aber menschlich berührende Einzelheiten, die sich mir eingeprägt haben. Als ich in Gastein, mit Erika Mann im Gespräch, wartete, bis Thomas Mann seinen Vormittag beschließen und aus dem Arbeitszimmer kommen würde, da machte dieser, als er eintrat, zunächst die offenbar schon gewohnten paar Schritte zu einer Karaffe mit Wermut, um sich ein Gläschen als Selbstbelohnung zu vergönnen. Erst dann sah er auf, erkannte und begrüßte mich.

Oder als Gast bei Robert Minder in Paris verzaubert zu werden vom Geist dieses reinen und edlen Humanisten und der unvergessenen Annette Kolb am Klavier.

Ich erinnere das lebhafte Gedränge der Diskussionen ernster und heiterer Art an den Abenden mit Karl Kerényi und Rolf Schott im Orvieto-Keller in Rom ...

Aber wie viele müßte ich noch nennen: Egon Friedell, Manès Sperber, Erika Mitterer, Heinz Politzer, Wolfgang Cordan und Werner Kraft, den Dichter und Essayisten.

Ich halte viel, sehr viel von Freundschaft. Ich halte echte Freundschaft für so selten wie eine Ehe, die den Namen verdient. Ich hatte in meinem Leben nur zweimal das Glück..., aber das ist falsch formuliert, richtig muß es heißen: ich hatte in meinem Leben sogar zweimal das seltene Glück, echte Freundschaft zu erleben. Mit meinem in New York verstorbenen Jugendfreund, dem Lyriker Friedrich Bergammer, über den Werner Kraft mehrmals, auch einmal im Zusammenhang mit Karl Kraus – geschrieben hat. Das andremal mit Joseph P. Strelka, Professor an der State University of New York at Albany, einem der genauesten und verläßlichsten Kenner der österreichischen Gegenwartsliteratur, Spezialist für Musil und Broch, bedeutender Exilforscher und verdienstvoller Veranstalter von Symposien – und zwar auch für nicht gazetten- und medienpropagierte Autoren, wenn sie es verdienen, wie z. B. George Saiko. Mit diesen zwei Freunden sind die hellsten und leuchtendsten Bilder im Film meiner Erinnerungen verbunden.

Es war, alles in allem, ein recht bewegtes, sehr farbig buntes Leben, mit dem ich mich vorzustellen hatte. Jetzt, da ich es mir erinnernd vor Augen führe, stehe ich selbst ein wenig kopfschüttelnd vor dem, was sich da alles zusammengebraut hat. Mag sein! Aber wie immer auch alles war, es war mein Leben. Ich darf aus einem Gedicht Hermann Stahls die Zeilen hersetzen: »... jetzt beim Verkosten der Süße / Wohllaut aus Stille und Gleichklang / unter dem härteren Himmel«.

Franz Blei, am Schluß seiner Autobiographie, legt vor seinem Tod als Letztes auf die geordneten Papiere einen Zettel, auf dem der Satz steht: »Ich nehme alles zurück.«

Nein! Ich nehme nichts zurück. Auch die Fehler, die ich gemacht habe, waren meine Fehler. Ich übertreibe nicht allzusehr, wenn ich sage: Ganz gewiß nicht jeder, aber doch fast jeder meiner Tage war einer der schönsten Tage meines Lebens. Ich möchte nicht anders gelebt haben.