Michael Lentz

Schriftsteller und Literaturwissenschaftler
Geboren 15.5.1964
Mitglied seit 2014

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Ich bin am 15. Mai 1964 gegen sechzehn Uhr im St. Marien-Hospital von Birkesdorf in Nordrhein-Westfalen geboren worden. Das zwischen Aachen und Köln liegende Birkesdorf wurde am 1. Januar 1972 im Rahmen einer kommunalen Gebietsreform der angrenzenden Kreisstadt Düren zugeordnet. In meinem Personalausweis steht »Geboren in Birkesdorf jetzt Düren.« Von der Geburt ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Die Wörter »Steißlage« und »Kaiserschnitt«, die meine Mutter mit ihr in Verbindung brachte, schienen mir früh in sich und im Zusammenhang widersprüchlich. Infolge der Folgen dieser Geburt bin ich jetzt hier, wofür ich mich ausdrücklich bedanke. Darmstadt war der Wohnort der Schwester meiner Mutter, hier waren wir oft, und so schließt sich ein Kreis.
Bekannt geworden ist Birkesdorf durch die Lieder Der Raderberjerboorebürgerspillverein (Der Raderbergerbauernbürgerspielverein) von Karl Berbuer, interpretiert von den Höhnern, und Buuredanz (Bauerntanz), gesungen von de Bläck Fööss. Hier die erste Strophe:

»Spellmannszöch höt mer üvverall
Un de Trumme met hadem Knall,
Och de Ferkel die quieken em Stall,
Wenn en Berkesdörp d'r Buur
Op d'r Huhzick danz,
Jo wenn en Berkersdörp d'r Buur
Op d'r Huhzick danz.«

(»Spielmannszüge hört man überall
Und die Trommeln mit hartem Knall,
Auch die Ferkel die quieken im Stall,
Wenn in Birkesdorf der Bauer
auf der Hochzeit tanzt,
Ja wenn in Birkesdorf der Bauer
auf der Hochzeit tanzt.«)

Düren inklusive Birkesdorf wurde am 16. November 1944 durch die Alliierten zu 99,2 % zerstört. Ein deutscher Rekord. Die Stadt war leer, ein 0,8-prozentiger Stummel, um den ein neues Gebiss gebaut wurde. Neunzehn Jahre und knapp sechs Monate später bin ich also verkehrt herum in die aufgefüllte Leere des heute größten Stadtteils von Düren hineingeboren worden. Dieses Hineingeborenwerden hört nicht eher auf, als bis es Hinaussterben heißt. Dazwischen vollziehen sich einige Wortfindungsprozesse, die Landschaften und Sosein, Begegnungen und Alleinsein, das Imaginäre und das Konkrete erkunden. Das leere Düren ist dabei historisch ein sich nicht verdunkelndes Nachbild, es ist ein Leuchtstern der Negation am ästhetischen Firmament. Leere ohne »h« und Wiederholung sind zwei ästhetische Kategorien, die es zu beherrschen gilt, sollen sie nicht zu Monstern werden; sie sind Teilmomente von Kippfiguren, die Leben und Text anstacheln, die das Textleben zum Blühen oder zum Absterben bringen. Die Leere, auch nach dem Tod eines geliebten Menschen, ist nur durch Intensität bewirkende Wiederholung zu überwinden – einer sich im Kreis drehenden, Reibung erzeugenden, die konkrete und die imaginäre Umgebung mit in die Dreh- und Drillbewegungen ziehenden Wiederholung von Bildern, Vorstellungen, Erinnerungen, Wörtern, Sätzen. Die Wiederholung ist immer anders. Es gibt keine Wiederholung. Es gibt Dasselbe, nochmal anders.
Mein Vater ist am 20. August 2014 gestorben, am Todestag meiner Mutter, die am 20. August 1998 gestorben ist. Wenn mein Vater das Grab meiner Mutter besuchte, hat er sein eigenes Grab besucht. Mein Vater liegt in der linken Hälfte, meine Mutter in der rechten Hälfte der Grabstätte. Im Tode vereint zu sein ist das Sehnsuchtsziel der Lebenden. Ich kann links nicht liegen. Mit dem Tod meines Vaters ist mir Düren abhanden gekommen. Düren ist jetzt die Grabstätte meiner Eltern. Das sind weniger als 0,8 Prozent. Den Rest muss die Erinnerung wieder aufbauen. Die Erinnerung zum Beispiel an die Eifel. Ich müsste lebenslang den Naturpark Eifel durchwandern und wandernd essen, trinken und schlafen – und würde das Erinnerte doch nicht einholen. Es ist eine schöne Erfahrung der Literatur, dass es für kein Wort einen Ersatz gibt, dass es das Erinnerte so nie gab, dass Literatur das Imaginäre herbeiholt und konserviert – im Fluidum der jedes Mal anderen Lektüre.
Das Buch der Unruhe des Lebens hat keine Seiten, man kann es nicht zu Ende lesen, es hat keine Ordnung außer auf den Tod zu, wir sind auf der Flucht, sollten aber innehalten.
Gebt mir eine restlose Wanderung in der Eifel, darin ein Kloster ohne Gott, darin ein ununterbrochenes Schreiben, die einzig denkbare Lebensform des Innehabens. Ich wäre so gern ein Roman Opałka der Literatur, ein Schreiber der Zeit, wiederholte Erinnerung würde endlich als erinnerte Wiederholung Frieden stiften, den eigenen.