Gustav Seibt

Historiker, Literaturkritiker und Journalist
Geboren 10.3.1959
Mitglied seit 2003

Sigmund-Freud-Preis

Ich habe an vier Universitäten studiert und in vier Redaktionen gearbeitet. Aber ich mußte in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt werden, um auf den entscheidenden Unterschied zu stoßen: Bei den Redaktionen sollte ich mich immer vorstellen, an den Universitäten dagegen nie. Der erste Arbeitstag in einer Zeitung bleibt aufregend auch für den erfahrenen Jobhopper. Man tritt, etwas förmlicher gekleidet als sonst im Alltag unter Journalisten üblich, während der Großen Sitzung vor die versammelte Mannschaft der oft hochberühmten älteren Kollegen, die mit eleganter Lässigkeit Kaffee trinken oder Zigarette rauchen, und bringt ein paar Sätze heraus, die natürlich nicht zu geschwätzig, jedoch auf keinen Fall zu knapp und verschlossen ausfallen sollten. Da stand ich dann also – und hatte nichts zu erzählen. Weder war ich Erdbeerpflücker in Südfrankreich gewesen, bevor ich meine ersten Artikel schrieb, noch als Au-pair in Melbourne, nicht einmal Dramaturg in Luzern. Ich hatte ganz langweilig Literatur und Geschichte studiert, und mich dabei nur knapp über den Rand des orbis romanus in den Teutoburger Wald hinausgewagt. Gleichwohl freundliches Klopfen der welterfahrenen Kollegen.

Der harmlose redaktionelle Initiationsritus signalisiert, daß Zeitungen in Deutschland lebendige Traditionen darstellen. Die „Frankfurter Allgemeine“, bei der ich anfing, mit ihrem sonderbar gemischten Erbe aus „Frankfurter Zeitung“, George-Kreis und Goebbelsschem „Reich“ ohnehin; aber auch die „Berliner Zeitung“, die 1945 als sowjetische Bezirkszeitung begann und die während der DDR-Zeit in Ost-Berlin das weniger parteitreue, das freundlichere, den Alltag genauer in den Blick nehmende Hauptstadtblatt war; ganz zu schweigen von der „Zeit“, diesem hanseatischen Schattenkabinett der alten Bundesrepublik, und der „Süddeutschen Zeitung“, die als amerikanisches Lizenzblatt die demokratiefeindlichen Sünden ihrer Vorkiegs-Vorgängerin, der „Münchner Neuesten Nachrichten“, unbedingt wiedergutmachen sollte. Es war jedenfalls bis gestern so: Wer in eine Zeitungsredaktion eintrat, begab sich in einen Zusammenhang, der spürbar weitläufiger war als das eigene Leben.

Wie anders ging es an den Universitäten zu, die ich seit 1980 bezog (um es mit einem fast schon romantischen Audruck zu sagen)! Es waren grämliche, meist in Neubauten aus Beton und Glas untergebrachte Institute, die, von Revolten und Reformen erst aufgescheucht, dann enttäuscht, nun ermattet in den grünen Wiesen kauerten. Man kam dort an und sagte nicht Hallo, man ging wieder fort und sagte ebenso wenig Adieu. Niemand bemerkte einen, es sei denn, man wurde von sich aus auffällig: durch allzu kesse Mitarbeit in den Seminaren oder durch manieristische schriftliche Arbeiten. Erst wenn man auf diese Weise die Wahrnehmungsschwellen der Lehrer überschritten hatte, durfte man auf freundliche persönliche Förderung hoffen – und entdeckte eine geistige Welt, die den äußeren Formen des akademischen Lebens nicht mehr anzumerken war. Arno Borst akzeptierte mich als Doktoranden; bei Manfred Fuhrmann durfte ich Erdbeerbowle aus dem Keller holen; Karl Heinz Bohrer forderte mich auf, in seiner Zeitschrift zu schreiben; Christian Meier legte ein gutes Wort für mich bei meinem ersten Chef Joachim Fest ein. Ohne sie und etliche andere hätte ich nicht die geringste Chance gehabt, auf einen eigenen Weg zu gelangen. Und in den Gesprächen dieser generösen Mentoren leuchteten weitere große Namen auf, die ihrer Lehrer und Vorgänger, Namen wie Herbert Grundmann, Joachim Ritter oder Hans-Georg Gadamer. Gab es etwas Erhebenderes als solche Ahnenreihen? Aber leben wollte ich in den Plattenburgen am Bodensee oder in Bielefeld mit ihren Gremien und Sitzungen doch nicht.

Der westdeutsche Nachkriegsbeton hat mich von Kind an bedrückt und beängstigt. Mochten die Plätze, die er umschloß, noch so weitläufig und zugig sein, der Raum, den sie bedeuteten, war eng: pure Gegenwart. Wie dankbar war ich für die falsche Renaissance unseres Gymnasiums mit seiner Sophokles-Statue und dem Vaterlandsaltar von 1920! Ich begann mich zu einer Zeit, als die Buchläden noch nicht von historischer Literatur überquollen, für Geschichte zu interessieren aus Platzangst: einer temporalen Klaustrophie, die ein Dasein im reinen Heute nicht ertragen hätte. Von fremder und ferner Zeit erzählten nicht nur die Historiker, sondern auch meine liebsten Dichter, gerade die modernen: Thomas Mann, Rudolf Borchardt und Arno Schmidt. Mit ihnen im Gepäck entfloh ich dem deutschen Gegenwartszement nach Italien und Rom. Erst in der Unaufgeräumtheit unserer altneuen Ruinenmetropole Berlin habe ich mich wieder so zu Hause gefühlt wie in der Ewigen Stadt.

Daß die Deutsche Akademie mir im selben Augenblick die Ehre der Mitgliedschaft erweist, in dem die Tradition der großen Zeitungen in Deutschland so gefährdet erscheint wie noch nie im letzten Halbjahrhundert und in dem sie daher alles Akademische abzustreifen beginnen, stimmt mich fast bedenklich. Bietet ein allzu wohlwollendes Schicksal mir ein Rettungsboot an? Ich danke Ihnen von ganzem, beklommenem Herzen.