Esther Kinsky

Schriftstellerin und Übersetzerin
Geboren 12.9.1956
Mitglied seit 2019

Mitgliedschaft, jedenfalls in dieser nennenswerten Form, jenseits von Krankenkasse und Berufsverband, ist ein neuer Status für mich, und ich stelle fest, dass es nicht so einfach ist, mich jetzt unter diesem neuen Vorzeichen zu definieren und vorzustellen. Wo anfangen? Etwa bei dem Moment, da mich die Nachricht oder – nennen wir es: Botschaft - von der mir angetragenen Ehre vor drei Jahren erreichte. Es war November, es regnete, ich saß in einem Bus in Hackney in Ostlondon. Das ist vielleicht kein schlechter Anfang für diese Selbst-Vorstellung, dieses Zusammentreffen von Nachricht und Ort selbst war wie eine Fügung, denn kein Gelände ist enger mit dem verbunden, was an meinem Leben vorstellenwert ist, als diese auf Lehm- Kies- und Sandgrund unmerklich schwankende Zone zwischen Festland und Mündungsland, wo einige der großen städtischen Parks und Grünflächen das BeiwortMarshesim Namen führen – Marschland, unentschieden, ob es zum Festen oder Fließenden gehört. Unsteter Boden, der immer wieder die Frage aufwirft, wohin man geht oder gehört, zu welcher Sprache, auf welche Seite welchen Gewässers, zum Übersetzen oder zum Schreiben. Kein Boden, auf dem man steht, stehen bleibt. Aufgewachsen hingegen bin ich mit dem Rheinischen Schiefergebirge unter den Füßen, einen Fluss, noch mündungsfern, im Blick, ein denkbar fester Boden, sofern man nicht, wie es in meiner Kindheit noch der Fall war, mit Griffel und Schiefertafel Schreiben lernt, was diese Vorstellung von Festigkeit unter widerborstigen Quietsch- und Reibelauten von Schiefer auf Schiefer doch unterwandert: was nämlich kann Stetigkeit mehr in Frage stellen als die wegwischbare Schrift, diese stets schon mit dem Verschwinden im Sinn hervorgebrachten Wörter und Sätze, die ephemeren Auftragstexte des ersten Schuljahrs? Heft und Stift und Geschriebenes, das sich nicht tilgen ließ, traten an den Platz schiefriger Vorläufigkeit, bleibender, doch leichtgewichtig und für die Begleitung ins Unstete geeignet. Der Schiefer blieb mir als Stein, als Halte- und Gedächtnisstein, allerdings nicht in der devonischen Variante des Rheinischen Schiefergebirges, sondern der cambrischen der schottischen Westküste, gestauchter Sumpf und Meeresboden der „Deep Time“, wie der Geologe James Hutton es nannte, der Zeit allererster Lebewesen, Milliarden Jahre nach ihrem Erscheinen im 19. Jahrhundert so schön als „Schrifttierchen“ benannt. Schiefer als Materie, die in so vieler Hinsicht an menschliches Erinnern und Gedächtnis denken lässt, dem Motor allen Schaffens, allen Schreibens, dem Motor der Sprache. Schreiben und Übersetzen sind beides Formen der Arbeit am Namen, der dem Erinnern gilt, dem Sich-Erinnern, der ins Gedächtnis ruft, in dieses immer wieder neu gestörte Gelände auf unstetem Grund, unstet wie Marsch- und Mündungsland, und das ist es, was den Teil meiner selbst definiert, den es hier vorzustellen gilt.