Reinhard Baumgart

Schriftsteller, Literaturkritiker und Theaterkritiker
Geboren 7.7.1929
Gestorben 2.7.2003
Mitglied seit 1983

Johann-Heinrich-Merck-Preis

»Hohe Herren von der Akademie!
Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben...«
Ende des Zitats.

Unmöglich, daß ich der erste sein sollte, dem beim Nachdenken über den nun fälligen »Bericht für eine Akademie« sehr bald Kafkas gleichnamiger Text eingefallen ist. Und gleich ist mir dabei, leider, klar geworden, daß ich es dem von Kafka zum Sprechen gebrachten Menschenaffen oder Affenmenschen in einem, in dem für jede vernünftige Akademie wichtigen Punkt nicht werde gleichtun können: Ihm gelingt es, sein Leben darzustellen als Summe und Laufbahn, als eine Erfolgsgeschichte oder doch als Modell der Folgerichtigkeit. Genau so vermag ich mein Leben, je länger es dauert, desto weniger zu sehen. »Diese Fortschritte!« ruft Kafkas wunderbares Karrieregeschöpf gegen Ende seines Berichts aus. »Wieviel Zickzack«, sage ich beim Anblick meiner Lebenslinie, wieviele Schritte zur Seite, wieviele Fluchtwege.
Ich bin, so könnte ich mich kurz und rechtfertigend erklären, geboren in Schlesien, Inhaber des blaßgrünen Flüchtlingsausweises, Kategorie A, der Bundesrepublik Deutschland. Aber Fluchtphantasien haben mich in meiner Jugend und Kindheit bewegt, längst bevor ich mir im Januar 1945 notgedrungen diesen Ausweis verdiente. Gemeint war immer eine Flucht irgendwohin weit nach Westen, weg vor den Folgen eines deutschen Endsiegs, den ich mir als Kind nur als eine rücksichtslose Menschenverfrachtung nach Osten vorstellen konnte, und Fluchthelfer dieser Phantasien war von früh an die Literatur, waren Gottfried Keller und Shakespeare, Viktor von Scheffel und Karl May: mit denen setzte ich mich lesend ab nach Westen, nach München, Verona, in den Ardennerwald, an den Boden-, den Vierwaldstätter-, den Silbersee. Literatur als Mimesis, als die Welt bloß noch einmal, ist mir, offengestanden, immer nur vorgekommen wie eine Konstruktion aus Schuldgefühl. Ich jedenfalls wollte und will lesend ein Flüchtling bleiben.
Als ich dann Ende der fünfziger Jahre zu schreiben begann, erzählten auch meine ersten Geschichten immer von Fluchtbewegungen, von wirren Protestakten und entschiedenen Ohne-mich-Aktionen, deren zwanghafter Zusammenhang mir damals verschleiert war und erst jetzt aufzudämmern beginnt. Damals hatte ich wohl nur vor, den großen Eindruck des »Fremden« von Camus abzuarbeiten und zu verwandeln in Verweigerungsgesten gegen die adenauerische Restauration. Jetzt erkenne ich auch die Verbindungslinien zwischen meinem ersten Lesen, meinem ersten Schreiben und der, sagen wir, Unzielstrebigkeit meines Lebens, das sich zum curriculum vitae, zur Laufbahn, Karriere, Rennbahn oder Rennebahn nicht zusammenfügen will.
Wenn ich richtig zähle, hat jede Phase dieses ungeduldigen Hakenschlagens immer nur sechs, sieben oder acht Jahre gedauert, so die Zeit an den Universitäten, lernend und kurz auch lehrend, so die Lektorenarbeit im Verlag, dann eine Periode ganz freier Schriftstellerei, während der die Produktion von Erzählung, Kritik und Essay sich aneinander zu reiben begann, darauf also eine nur noch halbfreie Position als Kulturberichterstatter, über Bücher, Filme und vor allem Theater. Irgendwann war ich wieder etabliert, der Rückzug also fällig, diesmal auch, weil ich Kritik für keinen lebenslänglichen Beruf halte: darunter leidet entweder das Leben oder die Kritik, meistens beides.
Nie, das ist wahr, bin ich aus dem Feld der Kultur geflüchtet, mit einer Ausnahme: Ich habe tatsächlich kurz und wütend und erfolglos ein Chemiestudium begonnen, als ich an der Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften zu verzweifeln glaubte. Doch die Chemie und auch die Astronomie hatten mir schon in der Jugend, wie Shakespeare oder Gottfried Keller, Reisen weit weg garantiert, in den Winterhimmel des Milchstraßensystems, ins Innere der Materie oder eines Reagenzglases. Dem Herz, das ich für diese Fächer hatte, war allerdings mein Kopf nicht gewachsen.
In den letzten Jahren bin ich, wieder ungeplant und eher unwillkürlich, in ein szenisches Schreiben als Hauptarbeit geraten, für das Theater, für Filme, einiges auch für die Schublade. Ich wollte Sprache verkörpert sehen, in Schauspielern, in Gesichtern, in Stimmen –, und falls das ein regressiver Wunsch sein sollte, eine neue Fluchtphantasie, so bin ich mit diesem Befund einverstanden.
Doch am Film hänge ich eigensinnigerweise nicht so sehr wegen der Bilder, sondern wegen des Rhythmus, der Montage, der Spannung zwischen Gesehenem und Gehörtem, wegen seiner – um es kurz und zu kurz zu sagen – musikalischen Struktur. Daß auch Texte, fremde wie eigene, Musik machen, also eine Nähe mindestens zu dieser flüchtenden und doch festesten Kunst erreichen sollten, ist mein von Jahr zu Jahr wachsendes Bedürfnis.
Übrigens habe ich auch nur sieben Bücher veröffentlicht, bisher, das letzte vor einem Jahrzehnt. Womit ich – ein letzter Schritt zur Seite – zu bedenken geben möchte: man sollte meinen Geständnissen nicht ganz und gar trauen. Wer so scheinbar freimütig und öffentlich beteuert, in seinem Leben sei ein Lebenswerk nicht zu entdecken, der könnte durchaus an der Einbildung oder dem Vorsatz hängen, er hätte noch etwas aufzuholen, einzulösen, wiedergutzumachen.
Warten wir ab.
Vorerst danke ich Ihnen für Ihr nahezu unbegründetes Vertrauen.