Literaturwissenschaftler
Geboren 11.6.1931
Gestorben 1.12.2007
Mitglied seit 1987
In der Kasseler Gemäldegalerie hängt ein Bild von Rembrandt, das den jungen Franz Rosenzweig, dessen 100. Geburtstag vor anderthalb Jahren in seiner hiesigen Geburtsstadt(*) gefeiert wurde, derartig faszinierte, daß er es an versteckter, aber bedeutender Stelle seines Stern der Erlösung erwähnt. Am Anfang des Kapitels, das der religiösen Phänomenologie des Judentums gewidmet ist, wird von »der Folge der Geschlechter« gesprochen, »deren jedes das nachkommende erzeugt, wie es hinwiederum von den Vorfahren zeugt. [...] Der Sohn wird gezeugt, damit er vom hingegangenen Vater seines Erzeugers zeuge«. Und nun kommt Rembrandt: »Der Enkel erneuert den Namen des Ahns. Die Erzväter rufen den spätesten Sprossen bei seinem Namen, der der ihre ist«. Denn »im Ahn der segnet und im Enkel, der den Segen empfängt« geschieht »die Herstellung der Gleichzeitigkeit der in der Zeitlichkeit getrennten Abfolgen der Geschlechter«. Der Segen Jakobs, jenes Gemälde, in dem Rembrandt den Sinn echter Überlieferung veranschaulicht, in der die zu tradierende (und dadurch zu rettende) Wahrheit – über die sie jedesmal von neuem gefährdenden Unterbrechungen hinweg – vom Großvater dem Enkel weitergegeben wird, führt auch mich zu meinem eigenen Großvater zurück, jenem heute fast vergessenen deutsch-jüdischen Schriftsteller Heinrich Kurtzig, der in seinem 1927 erschienenen Buch Ostdeutsches Judentum die für die Geschichte der jüdischen Emanzipation in Deutschland so typische Chronik seiner Familie erzählt hat. Aus der Provinz Posen stammend, übersiedelte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin, wo ich dreißig Jahre später geboren wurde. Was würde mein Großvater, der neben meiner Großmutter in einem kleinen jüdischen Friedhof in Casablanca begraben liegt, wohin ihn die Zufälle der Emigration zusammen mit meinen Eltern verschlagen hatten, was würde er sich wohl gedacht haben, wenn er mich heute, nach so vielen Umwegen, als neugewähltes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vor Ihnen, meine Damen und Herren, hätte stehen sehen? Auch in seinem Namen möchte ich mich bei Ihnen für die große Ehre bedanken, die Sie mir erweisen, indem Sie mich in Ihre Gesellschaft aufnehmen.
Daß ich, nach all dem, was geschah, nun doch zum Germanisten wurde, verdanke ich meinem Großvater, aber natürlich auch meinen Eltern, und jenem winzigen jüdisch-deutschen Familienkreis, wo während der Emigrationsjahre in Französisch-Marokko, die auch meine Kindheitsjahre waren, Goethe und Schiller, Grimms Märchen und Shakespeares Werke in der Übersetzung von Ludwig Tieck und August-Wilhelm Schlegel, Fontane und Thomas Mann, in der kleinen, noch aus Berlin geretteten Bibliothek den Ehrenplatz einnahmen. Ja, bei uns lebte man derartig in der Welt der deutschen Literatur, daß ich als Kind, den Unterhaltungen der Erwachsenen zuhörend, aufrichtig überzeugt war, daß Toni Buddenbrook eine entfernte Kusine meiner Mutter war, die nun auch in der Emigration lebte, irgendwo in Shanghai oder in Südamerika.
Die nächste Etappe meines Lebens spielt sich in Paris ab, wo ich an der École Normale Supérieure Germanistik studiere. Dort treffe ich zum ersten Mal Beda Allemann. Meine Lehrer heißen Maurice Colleville und Claude David, die ich nicht ohne Bewegung nach so langen Jahren hier wiederfinde, und auch Robert Minder, an den ich noch heute mit Dankbarkeit denke. Damals machte ich auch die Bekanntschaft des Philosophen Emmanuel Lévinas, dessen von Husserl und Heidegger, aber auch von Rosenzweig und der jüdischen Tradition herrührende Phänomenologie der Alterität meine geistige Entwicklung tief beeinflußte.
Nachdem ich einige Jahre als junger Assistent an der Sorbonne unterrichtet hatte, entschloß ich mich – aus Gründen, von denen ich umschreibend sagen könnte, daß sie etwas mit jenem Bilde Rembrandts zu tun haben – nach Israel zu gehen. Es war vor genau zwanzig Jahren. In Jerusalem habe ich die letzten Vertreter der jüdisch-deutschen Tradition entdeckt und vor allem Gershom Scholem. Die Gründung einer Abteilung für Germanistik an der Hebräischen Universität Jerusalem – eine Premiere im israelischen Hochschulwesen –, an der unser Kollege Albrecht Schöne einen entscheidenden Anteil genommen hat, war für mich eine Gelegenheit, mich mit der jüdischen Komponente der deutschen bzw. der westlichen Kultur erneut auseinanderzusetzen. Jener versteckten, oft auch verdrängten Kehrseite der geistigen Entwicklung Europas nachgehen, heißt für mich, etwa im Sinne Walter Benjamins, »die Geschichte gegen den Strich bürsten«, um vielleicht – und damit wären wir wieder bei meinem Großvater angelangt – einige, in jener vergessenen Tradition versteckten »Funken der Hoffnung« zu retten.
(*) Stéphan Mosès stellte sich bei der Frühjahrstagung 1988 in Kassel vor.