Judith Schalansky

Schriftstellerin und Buchgestalterin
Geboren 20.9.1980
Mitglied seit 2019

Das Kind soll Anne heißen. Doch Anne heißen schon andere, entdeckt die Lehramtsstudentin in der Entbindungsklinik und entscheidet sich für einen anderen Namen. Die Familie des jungen Mannes, der dabei ist, Arzt und Vater zu werden, wird sagen: »Wie kann man dem Kind einen jüdischen Namen geben?«, aber da ist die Geburtsurkunde bereits ausgestellt. Der Vater heißt Gero. Die Mutter Undine. Es gibt kompatiblere mythologische Konstellationen. Die Geburtsstadt liegt am Küstengewässer eines kleinen Landes. Wenn man ihren höchsten Turm, über dem Kirchendach von St. Nikolai besteigt, lässt sich im staubblauen Dunst das Meer ausmachen, die offene See.

Auf dieser See darf nur segeln, wer ganz sicher keine fremden Küsten ansteuert. Man nennt sie Dunkelrote oder Hundertfünfzigprozentige. Die Familie des jungen Vaters gehört dazu. Ihre Jolle heißt Dronte, wie der fette, flugunfähige Vogel einer fernen, unerreichbaren Insel, von dem nichts blieb außer ein paar stummen Knochen in Festlandsvitrinen, eine poröse Feder, ein Schädel mit Fetzen mumifizierter Haut.

Noch bevor der Säugling mit an Bord genommen werden kann, trennt sich die Mutter von dem jungen Mann, über den sie später kaum mehr Auskunft geben wird, als dass dieser »nicht treu sein konnte«.

Das Kind, das den Namen einer apokryphen Heldin trägt, der bald darauf mit dem Nachnamen eines zweiten Ehemannes kombiniert wird, will Postbotin werden, Naturforscherin, Matrosin – und nimmt bei seinen Expeditionen zu den eiszeitlichen Söllen, Toteisinseln auf falben Feldern, immer ein Buch mit, egal wie schwer es ist. Baltische Märchen, Atlanten, Naturführer, ein altes Jugendlexikon der Mutter. Überflüssig zu erwähnen, dass das Kind nicht sonderlich beliebt ist. Wer auf dem Dorf wohnt, zugezogen ist und Eltern hat, die nicht im Trockenwerk, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft oder der Tierproduktion tätig sind, wird nie dazugehören und darf sich glücklich schätzen, nicht jede Woche verprügelt zu werden. Lehrerkind bleibt Lehrerkind.

Das Kind schreibt lange Aufsätze über Segelboote, Palmen und bärtige Männer mit Kapitänsmützen und qualmenden Pfeifen. Die Mutter, die bald unglücklicherweise auch die Lehrerin des Kindes wird und seine Texte berufsbedingt zu korrigieren hat, beschwert sich über den Umfang der uferlosen Geschichten. Der Atlas ist da bereits veraltet und auch jedes Lexikon überholt: andere Grenzen, Sitten, Währungen. Und was zu erlernen ist, lässt sich in keinem Ratgeber nachlesen.

Das Kind träumt von einem Buch, das alle anderen Bücher enthält, das Wissen der Welt, eine Handreichung zum Überleben. Es wird danach suchen, in den Regalen der Stadtbibliothek, unweit des Hafens, einem dreistöckigen Altbau, in dem sich ungleich weiter herumkommen lässt als auf einer Jolle.

Dort sah ich zum ersten Mal ein Bild der biblischen Heldin, mit leichtem Silberblick, federbeschmücktem Samtbarett und feuerlockigem Haar, in den schmalen, behandschuhten Händen ein blankes Schwert und ein abgeschlagenes Haupt mit Bart und offenem Mund, die Augen blutunterlaufen, tot. Merkwürdigerweise war ich überhaupt nicht schockiert. Heute weiß ich, dass das Abwesende einen ebenso prägen kann wie das Anwesende, dass Privatmythologien wie diese beim Überleben helfen und der Beruf der Schriftstellerin erlaubt, sein Lebtag Bibliotheken aufzusuchen. Segeln kann ich noch immer nicht, aber dass Sie das Vertrauen und die Großzügigkeit besessen haben, mich an Bord dieses ehrwürdigen, zweifellos hochseetauglichen Schiffes zu nehmen, erfüllt mich mit Dankbarkeit und großer Freude.