Barbara Honigmann

Schriftstellerin
Geboren 12.2.1949
Mitglied seit 2008

Wie sich immer alles zueinander fügt, ist doch fast zum Verrücktwerden. Dass sich, wenn ich so sagen darf, »unsere Akademie« in Darmstadt befindet und das Thema der diesjärigen Herbsttagung »Darmstadt« ist, und es sich trifft, dass ich mich Ihnen heute hier in Darmstadt vorstellen darf, da Sie mir die Ehre zuteil werden ließen, mich in ihren Kreis aufzunehmen, die ich als Anerkennung meiner Arbeit ansehe, für die ich danke, und die mich auf eine Gefährtenschaft jenseits des Literaturbetriebs und »Jahrmarkts der Eitelkeiten« hoffen lässt.

Da es nun gekommen ist, wie es gekommen ist, stelle ich Ihnen zuerst meine Urgroßmutter vor, deren Namen, Anna, ich als zweiten Namen trage, und die eben hier in Darmstadt, wenige Meter von dem Ort, an dem wir uns gerade befinden, auf dem jüdischen Friedhof in der Seekatzstraße, begraben ist. Auch ihr Mann ist da begraben und ihre Eltern und die Eltern der Eltern und deren Eltern, meine Vorfahren, die Weils und die Sanders, »die schon mit den Römern hierher gekommen sind!«, wie mein Vater anzugeben liebte. Die Weils und die Sanders waren Ärzte und Bankiers, was Juden so sind oder waren, und mein Vater pflegte weiter anzugeben, dass einer von ihnen Hofbankier des Großherzogs von Hessen-Darmstadt war und der andere sein Hofarzt und gleichzeitig noch den Zaren von Bulgarien, Alexander Battenberg, kuriert habe. Das ist mündliche Überlieferung, und ich habe es nicht nachgeprüft oder nachgeforscht, denn es klingt viel zu schön, jedenfalls schöner als alles, was dann folgte. Mein Vater liebte seine Großmutter Anna auch deshalb so sehr, weil er seine Mutter schon mit 11 Jahren verloren hatte, kurz bevor sein einziger Bruder 1916 als deutscher Fähnrich gegen die Franzosen fiel. Weniger als zwanzig Jahre später musste dann mein Vater aber als Jude das geliebte Hessen verlassen, um in einem fremden Land Zuflucht zu suchen. Den Exodus vom Frankfurter Hauptbahnhof hat er mir überliefert, dass da der Schaffner vor der Abfahrt des Zuges auf gut hessisch gerufen habe:


»Hinne fertsch, vorne fertsch, alles fertsch – FORT!«

Vorher hatte er, mein Vater, nicht der Schaffner, an der Hessischen Ludwigs-Universität zu Gießen »Über die sozialen und politischen Ideen im Werk Georg Büchners« promoviert. Wir befinden uns also in jeder Hinsicht in Hessen.

Da war ich zwar noch nicht geboren, und mein Vater sprach mir, die ich ja »danach« im ungeliebten Berlin geboren wurde von Hessen immer wie von einem verlorenen Paradies. Vor allem aber las er mir, seit ich zurückdenken kann und mein ganzes späteres Leben lang, nein, er kannte es auswendig, das Märchen aus dem Woyzeck vor:

»Es war einmal ein arm Kind und hatt’ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.«

Mein Vater war das Kind. Und ich war das Kind, seine Tochter.

So hat er dieses Gefühl der Verlorenheit in mich eingepflanzt, wie ich erst später verstand, na, was man so verstehen nennt, ich begriff, dass er mit dem Büchnerschen Märchen all seinen Lebensbrüchen, Verzweiflungen, Irrwegen, Auswegen und Ängsten Worte geben konnte, in die sich noch die Lebensfäden meiner Mutter, ihrer beider jüdische Herkunft, die politischen Verhältnisse, ihre Ideologien und verlorenen Illusionen hineinverwebten, die beide mit ihrer Tochter nicht teilen konnten, aber doch weitergeben mussten.

Ich glaube heute, dass ich wegen dieser Unheimlichkeiten in meiner Kindheit viel tanzte und zur Ballettschule ging und Tänzerin werden wollte, denn wenn man Tänzerin ist, kann man seinen Körper im Raum herumwerfen, ohne dafür für verrückt erklärt zu werden. Aber leider riet mir Gret Palucca, in deren Schule ich Aufnahme suchte, von diesem Weg ab, da ich keine der nötigen physischen Voraussetzungen besaß.

Und erst ziemlich spät, als ich das Land, in dem ich aufgewachsen war, in mehrfacher Hinsicht verlassen, die Sprache gewechselt, meine Eltern verloren und begriffen hatte, dass ich diesen mir überlieferten, ja in mich eingepflanzten Gefühlen von Trauer, Angst und Unbehaustheit Gestalt geben will, um sie vielleicht zu bannen und zugleich von ihnen Zeugnis abzulegen, und nachdem meine Tanzkarriere und meine Theaterkarriere gescheitert waren, wagte ich mich, endlich, ziemlich spät in meinem Leben, und zunächst durch das Bild, zum Wort hindurch, um zu erzählen, was zu erzählen ist.

Und es kann doch kein Zufall sein, dass ich Ihnen diese »confessio« hier in Darmstadt mache, so nahe an den Gräbern meiner Voreltern, »die mit den Römern hierher gekommen sind«.

Der Prophet Sacharia sagt: »Sie sollen mit ihren Kindern leben und wiederkommen«. Da bin ich.

Ich danke Ihnen.