Thomas Hürlimann

Schriftsteller
Geboren 21.12.1950
Mitglied seit 1995

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, ein Sommerabend auf der Insel Bornholm. Am Strand stand eine große Tafel, baden verboten, aber das Meer war glatt, die Gefahr schien mir gering, ich legte meine Kleider, das Geld und den Paß unter die Verbotstafel und schwamm hinaus. Als die Sonne zu sinken begann, kehrte ich um, schwamm zurück, stieg nackt an Land, und sicher können Sie meinen Schrecken nachfühlen – meine Sachen waren weg. Ich bedeckte mit einer alten Zeitung mein Geschlecht, ging zur Strandstraße hoch und versuchte, vorbeifahrenden Autos ein mitleiderheischendes Gesicht zu zeigen. Ein junger Mann ließ mich einsteigen. Ich erklärte ihm, während ich hinausgeschwommen sei, habe ein Strandräuber zugeschlagen. Der Mann sah mich ungläubig an. Hier, fragte er, sind Sie hinausgeschwommen? Ich zeigte auf die Tafel: Dort haben meine Kleider gelegen. Da wendete der Mann den Wagen und fuhr langsam Richtung Norden. Nach gut hundert Metern hielt er an und spähte zum Strand hinunter, wo wieder eine dieser Tafeln stand, BADEN VERBOTEN, und so ging es nun weiter, von Tafel zu Tafel, deren Schatten länger wurden und schräger. Etwa bei der achten oder neunten Verbotstafel lag ein dunkles Bündel – meine Kleider. Sie ahnen, was passiert war: Den Schwimmer hatte eine Strömung erfaßt und nach Süden davongetrieben. So war ich zwar, aus dem Meer steigend, zu einer Tafel gelangt, die sich von der Tafel, wo ich abgeschwommen war, kaum unterschied, auch der Strand sah hier, im Süden, gleich aus wie weiter oben, zwischen diesen beiden Punkten jedoch hatte ich vollkommen mühelos und vollkommen ahnungslos eine lange Strecke zurückgelegt, und wäre ich draußen auf dem Meer nur zwei oder drei Minuten später umgekehrt, hätte mich die Strömung so weit nach Süden gefahren, daß ich die Südspitze der Insel nie mehr erreicht hätte. Ich bin im Dezember 1950 in Zug, einer binnenländischen Kleinstadt, geboren, und an jenem Augustabend 1981 auf Bornholm wäre ich beinah gestorben. Zwei Monate später eröffnete Egon Ammann mit meinem ersten Buch seinen Verlag, und im Schauspielhaus Zürich inszenierte Werner Düggelin mein erstes Stück. Heute lebe ich mit meiner Frau, Kathrin Brenk, in einem voralpinen Dorf und bin glücklich, mit dem Schreiben von kleinen Geschichten und Theaterstücken soviel Geld zu verdienen, daß ich meiner liebsten Tätigkeit nachgehen kann, dem Lesen. Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, daß Sie mich als korrespondierendes Mitglied in die Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen haben.