Norbert Gstrein

Schriftsteller
Geboren 3.6.1961
Mitglied seit 2023

Russland und Amerika

Alles, was ich Ihnen über mein Herkommen aus einem Hundertseelendorf in den Tiroler Bergen, 1900 m über dem Meer, erzählen kann, lässt sich so leicht folklorisieren, dass ich es lieber gleich selbst folklorisiere – wenn Sie mir das gestatten, trotz Russland, trotz Amerika und trotz aller anderen „trotz“, gegen die sich die Literatur auf ihren eigenen Wegen behaupten muss. Also eine frühe Erinnerung: Meine Eltern waren am Morgen nach Innsbruck gefahren, um dort Besorgungen für ihr Hotel zu machen, und es schneite gerade oder hatte geschneit oder schneite eben gerade nicht, und sie würden erst am Abend wieder zurück sein und mir ein Buch mitbringen. Die Vorstellung, wie meine Mutter eine Buchhandlung betrat und was sie der Buchhändlerin über mich sagte außer dem Alter und ob Junge oder Mädchen, was man damals ja für etwas endgültig Definierendes gehalten hat: Wahrscheinlich nichts und doch genug, das es rechtferigte, dass ihr genau dieses oder jenes Buch für mich in die Hand gedrückt wurde, unfehlbar eine der üblichen Abenteuergeschichten.

Mein Vater wäre sicher nicht mit hineingegangen und hätte im Auto ungeduldig auf sie gewartet, wie er gewartet hatte, wenn sie auf Personalsuche auf der anderen Seite der Grenze ihre gemeinsamen Touren durch Südtirol unternommen und vor entlegenen Höfen stehengeblieben waren und er meine Mutter vorgeschickt hatte. So rekrutierten sie die Abspüler oder Schankhilfen für das Hotel, die dann die Arbeit taten, für die eigentlich ich vorgesehen und womöglich überhaupt erst in die Welt gesetzt worden war. Seither ist ein halbes oder genaugenommen eher ein dreiviertel und noch genauer genommen fast ein ganzes Leben vergangen, und ich frage mich, was wohl aus ihnen allen geworden ist, die so lange für mich eingesprungen sind und nicht nur meine Aufgaben übernommen, sondern zeitweilig sogar den Kopf für mich hingehalten haben. Als Rechtfertigung oder Entschuldigung oder auch bloß Ausrede kann ich vorbringen, dass ich ein Kind war, aber halbe Kinder waren auch sie oft noch gewesen, und ich hatte nur dank ihnen alle Zeit der Welt, meinen Tagträumereien nachzuhängen und mich in meine Dachkammer zurückzuziehen und in meinen Büchern zu verlieren, sechs, sieben oder acht Jahre alt.
Die Vorstellung, wer ich in einem Roman wäre, den einer oder eine von ihnen geschrieben hat oder noch schreiben könnte. Bestenfalls ein weltfremder Sonderling, schlechtestensfalls ein verzogenes, jeder Realität enthobenes Hotelierssöhnchen, das ein Leben auf Kosten anderer führte – aber war ich das deshalb auch wirklich oder nur unter den Gesichtspunkten eines sozialistischen Realismus’, der nicht unbedingt die Wahrheit auf seiner Seite hatte? Und was bedeutete es da, dass man immer auch ein anderer sein könnte? Den Kopf hinhalten, damit ihn nicht andere für einen hinhalten mussten? Dazu ließe sich natürlich einiges sagen, Stichwort „Russland“, Stichwort „Amerika“, Stichwort „unser aller Freiheit“ verteidigen, aber bitte erlassen Sie mir das, weil mich sonst nur die Wut packt und ich anfange über Deutschland zu reden und mich die Wut nur noch mehr packen müsste und das bestimmt keine gute Idee ist.
Also lieber weiter mit meinen Assoziationen neben der Spur. Lesen und die Alternativen zum Lesen auf den fünfhundert Metern von einem Dorfende zum anderen, nachdem ich mir aus Ungeschicktheit oder frühkindlicher Berechnung den Ruf erworben hatte, für alles Vernünftige untauglich zu sein. Eine Möglichkeit, vielleicht nicht die beste, das Unaushaltbare aushaltbar zu machen, wäre immer auch der Alkohol gewesen, der in meiner Kindheit allgegenwärtig war und allen die Köpfe benebelte und sie sicher machte, dass ihr winziger Flecken Welt der einzige Flecken war, an dem es sich zu leben lohnte, sicher auch ihrer Auserwähltheit. Ich war ein passabler Skifahrer und wäre wahrscheinlich ein großer Fußballspieler geworden, wenn ich weniger gelesen und mich mehr auf das Fußballspielen konzentriert hätte in jenen Tagen, in denen wir nachmittagelang nichts anderes getan haben, als einem Ball hinterherzurennen auf dem Talboden, der gerade breit genug für einen provisorischen Fussballplatz war - vorausgesetzt natürlich, es hatte nicht gerade geschneit oder schneite gerade nicht, was auch im Juli vorkommen konnte, die alte Leier.
Jetzt erweisen Sie mir die Ehre, mich in diese Akademie aufzunehmen, und sosehr mich das mit Dankbarkeit und Freude erfüllt, so wenig kann ich Ihnen den ganz und gar kindischen Gedanken verhehlen, dass ich mir trotz meiner Jahre, trotz all der Bücher, die ich über die Jahre gelesen habe, und - auch hier wieder – trotz aller anderen „trotz“ immer noch ein anderes Leben als das eines Schreibenden vorstellen kann und natürlich auch vorstellen können muss, wenn ich schreiben und also überleben und das heißt nicht zuletzt eine Akademie überleben will, und dass ich Sehnsucht nach diesem Leben habe. Ich nehme an, dass Sie hohe Erwartungen an ein zukünftiges Mitglied stellen, und ich weiß, Russland, ich weiß, Amerika, und könnte vielleicht auch dazu etwas sagen, aber ich weiß nicht, was mein Sagen besser machen würde, wenn es nur beim Sagen bleibt, also lassen Sie mich Ihre Erwartungen enttäuschen, sollten Sie Erwartungen in diese oder eine ähnliche Richtung haben, und mich am Ende mit dem Satz bescheiden, dass meine Erwartung an die Literatur ist, dass sie Literatur ist, Minimal- und Maximalforderung in einem.