Paul Schallück

Schriftsteller
Geboren 17.6.1922
Gestorben 29.2.1976
Mitglied seit 1969

Also gut, da es mündlich unmöglich war, stelle ich mich Ihnen nun schriftlich vor, obwohl ich mir nur mit Mühe vorstellen kann, wie ich mich vorstellen soll, ohne mich vor Sie hinzustellen, auf Fragen wartend, auf Fragen antwortend. Eine so gefestigte Vorstellung, wie Sie sich möglicherweise vorstellen, habe ich von mir nicht, daß ich, was sich mir von mir vorstellt, als etwas Festes vor Sie hinstellen und sagen könnte: Voilà! Fast nur im Frage- und Antwortspiel stellt sich mir Umrißhaftes von mir vor. Ich sehe mich auf Dialog angewiesen und auch deshalb wohl nicht als einen Poeten, von dem man landläufig noch immer meint, er säße mit sich selbst beschäftigt im Elfenbeinturm, ließe sich von Musen küssen und mit der Welt nicht ein. Ich hab mich mit der Welt eingelassen, in meinen Büchern, die sich mir als engagierte Versuche auf der Suche nach dem Dialog darstellen. Aber ich höre, sehe, rieche, schmecke, fühle und versuche so vieles zu verstehen, werde infolgedessen so vielfach befragt, daß ich auch nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten greifen muß, um den Fragen andere entgegenzuhalten. Differenzierend wäre zu sagen, daß sich vielmehr die Welt mit mir eingelassen hat, ohne Wahl, das Angebot annehmen oder ablehnen zu können. Die umrissene Biographie kann verdeutlichen, wie das geschah, und daß ich ausgeliefert wurde. In der epischen Form ohne Bekenntnischarakter stellt es sich so dar und Ihnen vor: Seine Mutter war als Neunzehnjährige, nach orthodoxem Ritus getraut mit einem deutschen Kriegsgefangenen, einen Sohn auf dem Arm, aus dem sibirischen Irkutsk ins Münsterland gekommen. Viele Jahre blieb sie in der kleinen Stadt, in der großen Familie des Mannes und in der Nachbarschaft »die Fremde«. Sie sprach nur gebrochen deutsch, mußte die schwere Sprache von den Lippen der Mitmenschen lernen. In den Feinheiten des Zusammenlebens, in Konventionen, Traditionen, ungeschriebenen Gesetzen kannte sie sich nicht aus, verstand lange nicht, warum »man« dies nicht tun, das lassen, so sprechen, das verschweigen, sich so geben mußte. »Man« hatte keine Geduld mit ihr. Sie konnte sich nicht wehren gegen Gelächter, wenn sie ein Wort falsch aussprach, gegen Getuschel, gegen Verdächtigung. Und wenn der Mann für sie sprach, verdächtigte man auch ihn. »Man« mißtraute der ganzen Familie grundsätzlich. Die Frau war das schwarze Schaf aus den Urwäldern Sibiriens. Der Sündenbock war sie. So war die Familie in die Situation der Minderheit geraten, ohne den Vorgang begreifen zu können. Sie alle reagierten, wie Minderheiten immer reagieren: Sie nahmen die Rolle des Außenseiters an, der sich fortwährend bewähren muß, der sich nur wehren kann, wenn er die Rolle annimmt. Da niemand sonst in Nachbarschaft und Familie die höhere Schule besuchte, wollten die Eltern ihre Söhne aufs Gymnasium geben. Aber das war teuer. Also ging der Dreizehnjährige, von dem die Rede ist, auf die Klosterschule, das war billiger. Und es war etwas Besonderes, es hob ihn und die ganze Familie aus dem Gewöhnlichen heraus. »Man« sperrte die Mäuler auf, »man« staunte: »Der Junge der Russin!« »Man« behandelte sie etwas freundlicher. Anfang des Krieges wurde die Schule geschlossen. Er ging ins Elternhaus zurück, auf die Oberschule, wurde 1941 Soldat, im August 1944 in Paris verwundet, von französischen Medizinstudenten mit Armbinden des Roten Kreuzes aufgelesen, ins Hotel Dieu gebracht und damit in französische Gefangenschaft. 1946 wurde er von Amerikanern entlassen, studierte in Münster und Köln und schrieb statt einer Doktorarbeit seinen ersten Roman. Der wurde gedruckt, der erschien: »Wenn man aufhören könnte zu lügen«. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller in Köln und sucht schreibend und redend und diskutierend und kritisierend den Dialog, mit wem auch immer.