Jean Starobinski

Literaturwissenschaftler und Arzt
Geboren 17.11.1920
Gestorben 4.3.2019
Mitglied seit 1986

Ob es eigentlich eine Genfer Schule der Literaturkritik gibt, kann man wohl bezweifeln. Daß aber eine lange Tradition der engen Beziehungen zwischen den Genfer Romanisten und der Kultur des deutschen Sprachgebietes besteht, ist dagegen nicht zu leugnen.
Vielleicht ist es eine der Ursachen, die uns Westschweizer von unseren französischen Freunden unterscheiden. Als Zeugen davon seien nur die Namen meiner Genfer Vorgänger: Albert Béguin, Marcel Raymond und Jean Rousset genannt. In dieser Hinsicht bin ich keine Ausnahme. Nach ihrem Beispiel habe ich nicht nur von deutschsprachigen Dichtern, Historikern und Philologen viel Wertvolles gelernt, sondern auch mich bemüht, ihre Werke durch eigene Übersetzungen sowie zahlreiche Vorreden den französischen Lesern zugänglich zu machen. Darum möchte ich gerne mit dem Gedächtnis meiner Meister und mit meinen westschweizerischen Freunden die Ehre teilen, die die Deutsche Akademie mit der Ernennung als Mitglied mir zugeteilt hat. Meinen Dank will ich zuerst persönlicherweise ausdrücken; er gilt aber als eine Art kollektiver Danksagung.
Es scheint mir wichtiger, meine Interessen als meine Person vorzustellen. Aus meinem ärztlichen Beruf, den ich, nachdem ich die humanistische »licence ès lettres« in Genf absolviert hatte, erlernte und eine Zeitlang ausübte, ist mir geblieben, meine Selbstbeobachtung nicht für vorrangig oder prioritär zu halten. Als Kritiker, als Literaturwissenschaftler habe ich doch oft die Schriftsteller und die Werke jener studiert, die sich der Selbstbeobachtung gewidmet haben: Rousseau, Montaigne, Valéry. Psychologie, Psychoanalyse, Phänomenologie des subjektiven Erlebnisses sind aber keineswegs meine vorwiegenden Interessen. Hätte ich meine Methode kurz zu bezeichnen, so würde ich sie, zusammenfassend und etwas paradoxerweise, einen allgemeinen und extensiven Komparatismus benennen, eine generelle und interdisziplinäre Relationsbetrachtung.
Immer sind mir meine veröffentlichten Arbeiten nur als Skizzen und Vorbereitungen vorgekommen. Die Überzeugung besteht noch heute, doch wird sie vielleicht, mit den Jahren, immer illusorischer. Meine Pläne, und nicht, was ich früher geschrieben habe, halte ich für mein genaueres Abbild. In der Zukunft, mit Hilfe meiner Einbildungen, sehe ich etwas erscheinen, das mich endlich zu mir selbst bringen könnte. Ich verharre in der Überzeugung, daß historische Genauigkeit, kritische Akribie, Glück im hermeneutischen Unternehmen mit einer gewissen dichterischen Qualität sich verschmelzen können. Ich fühle mich berechtigt zu glauben – und der Name der Deutschen Akademie ermutigt mich dazu –, daß das Studium der verschiedenen Sprachen, die den Text der früheren und der gegenwärtigen Kulturen ausmachen, sich als eine Art Dichtung entwickeln kann. Das läßt sich aber nicht pauschal erhoffen. Die Hilfe einer geheimnisvollen Gnade muß noch dazukommen – eine Gnade, die man sich nur durch sorgsame und frohe Arbeit verdienen kann.