Jean Améry

Schriftsteller
Geboren 31.10.1912
Gestorben 17.10.1978
Mitglied seit 1978

Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Ich bin ein junger Autor, zähle als solcher rund fünfzehn Lenze. Die übrigen biographischen Daten sind nachzulesen in Verlagsprospekten von Klett-Cotta. Wer mehr zu erfahren wünscht, sei verwiesen auf meine Schriften, von denen die meisten autobiographischen Charakters sind. Was hier allenfalls von Interesse sein kann, ist die literarische Laufbahn, die es mit sich gebracht hat, daß ich als ein schriftstellernder Jüngling vor Ihnen stehe. Geschrieben habe ich freilich seit meiner Kindheit. Erst waren es Gedichte; Heine und die Folgen. Danach kamen Erzählungen, deren erste 1927 in Wien erschien. 1934 machte ich mich an einen Roman. Robert Musil fand ihn begabt und ermutigte mich. Aber die herzhafteste Tapferkeit kam nicht auf gegen den Lauf der Dinge. Die Veröffentlichungs-Chance für einen Anfänger deutscher Zunge, dem Deutschland versperrt war, stand an der Null-Grenze, denn der dürftige deutschsprachige Markt außerhalb der Reichsgrenzen war überschwemmt von den Manuskripten namhafter, ja berühmter, Autoren. Also ließ ich zwar nicht das Schreiben bleiben, wohl aber jeden Versuch, außerhalb des Dollfuß-Österreich, woselbst man von mir nur gelegentlich in Zeitschriften und Anthologien etwas abdruckte, eine größere Arbeit zu Tage zu fördern. Bald nahm der Krieg mir alle Sorgen ab: Untergrund, Nazi-Gefängnisse und KZ-Lager sind keine rechten Arbeitsstätten für literarische Bemühungen.
1945, auferstanden von den Toten, galt es, Geld zu verdienen. Die Länder, in denen ich einen bürgerlichen Beruf hätte ausüben können, verboten sich mir. Ich wollte von meiner österreichischen Heimat nichts wissen und von Deutschland schon gar nichts. Das Land war mir widerwärtig in höchstem Grade, und ich fand, es sei der Morgenthau-Plan eine vernünftige und auch sehr milde Lösung. Nun stand ich vor einer Entscheidung, von der ich heute noch nicht weiß, ob ich sie richtig traf. Ich hätte, um mir mein Brot zu verdienen, in französischer Sprache schreiben können oder in deutscher. Ich wählte die Muttersprache. Aber ich veröffentlichte, ein freiwilliger Exilautor, ausschließlich in der alemannischen Schweiz. So wurde ich kein Schriftsteller, nur ein Schreibhandwerker ohne jeden Ehrgeiz. Eine Agentur sorgte für die Unterbringung meiner Manuskripte. Ich schrieb, was man verlangte: gestern war es ein Aufsatz über Picasso, heute ein Artikel über den Tod der Marylin Monroe, morgen würde es ein Text über Pascal sein. Es war tout compte fait, eine ganz gute Zeit; ich darf mich nicht beklagen.
1964 begegnete ich in Brüssel durch Zufall Helmut Heißenbüttel. Er war kriegsversehrt wie ich. Ihm hatte der II. Weltkrieg einen Arm weggerissen, mir hatte er die schriftstellerische Existenz erstickt. Sympathie auf den ersten Blick, jedenfalls von meiner Seite aus. Noch immer hatte ich, wie Enzensberger damals schrieb, nichts zu schaffen mit Deutschland. Aber schon waren zwei Jahrzehnte hingegangen seit das Schmachreich getilgt war, und so ging ich ein auf des mir mehr als nur sympathischen Mannes Vorschlag, für ihn und seinen Südfunk eine Sendereihe zu verfassen. Die wurde dann mein Buch Jenseits von Schuld und Sühne, ein notwendiger, wenn gewiß auch unzureichender Versuch, so etwas zu schreiben wie eine autobiographische Phänomenologie der Opfer-Existenz. Das Buch kam 1966 heraus, und ich betrat mit ihm zögernd und unbehaglich die deutsche literarische Bühne. Man empfing mich eher freundlich, wenn auch ein paar Köpfe mich zum literarischen Berufs-Nazi-Opfer machten, so wie, ein paar Jahre danach, als ich über das Altern schrieb, zum hauptamtlichen senex und noch später, da meine Studie über den Freitod herauskam, zum Todes-Spezialisten. Man nannte mich einen »Essayisten« und war beleidigt, als ich in Lefeu oder Der Abbruch die Grenze überschritt und mich an die belles lettres heranwagte, in denen ich schließlich meine literarischen Ursprünge hatte.
Wenn ich heute eintreten darf in Ihren illustren Kreis, kann das nur entweder eine Alterserscheinung sein oder ein freundliches Mißverständnis. Aber was soll das Grübeln. Der fünfzehnjährige hoffnungsvolle Anfänger dankt Ihnen aufrichtig für die Ehre, die Sie ihm durch die Zuwahl erwiesen.