Reinhart Koselleck

Historiker
Geboren 23.4.1923
Gestorben 3.2.2006
Mitglied seit 1980

Sigmund-Freud-Preis

Verehrter Herr Präsident,
liebe und verehrte Mitglieder und Freunde der Akademie –
wenn ich meine Person als Historiker historisch vorstellen soll, so muß ich zuerst auf meine Herkunft verweisen. Das ist schnell getan. Väterlicherseits komme ich, was am Namen zu erkennen ist, aus dem deutsch-slawischen Osten, aus der Lausitz. Meine Mutter entstammt, geborene Marchand, einer hugenottischen Familie, und sie war immer stolz darauf. Formey, der Freund Diderots und Sekretär der preußischen Akademie, gehörte dazu. Er verfaßte übrigens den Artikel ›Temps‹ in der großen Enzyklopädie. Das habe ich aber erst später gemerkt; hier bin ich nur sekundärer Erbe.
Mein Vater war der erste Akademiker auf der üblichen Aufstiegsleiter dreier einander folgender Generationen. Die hugenottische Familie erkletterte diese Leiter bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts, um seitdem in der Schicht der Eximierten, der gelehrten und beamteten Bürger zu bleiben. Ergebnis: Ich bin, wie die Namen sagen und wie die Herkunft zeigt, ein Preuße. Über Preußen wird heute viel geredet. Jedenfalls kann man sich sowenig wie seine Eltern seine Herkunft aussuchen. Aber man muß sich zu ihr verhalten. Ich habe das sozialhistorisch zu tun versucht, in dem Buch über Preußen zwischen Reform und Revolution.
Die Schule besuchte ich in fünf Städten von Breslau bis Saarbrücken. Achtmal wechselte ich die Schule, zweimal auf dem üblichen Weg – sechsmal infolge der wirtschaftlichen und politischen Ereignisse, die von der Weltwirtschaftskrise über 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg tief in unsere Familie eingegriffen haben. Das freilich ist generationenspezifisch. Dieser Erfahrungsraum hat mich geprägt. Es ist der Erfahrungsraum meiner politischen Generation, zu der der Jahrgang 1923 gehört.
Im Studium, nach der Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft, suchte ich ihn geschichtlich auszumessen. Meine erste Schrift handelt deshalb von der Aufklärung, im historischen Kontext, aber in systematischer Absicht. Darin liegt kein Widerspruch. Ihr Titel lautet Kritik und Krise, und eine biographische Komponente ist zwangsläufig in dem Titel versteckt. Ich schrieb die These in Heidelberg, wo ich, mit kurzen Unterbrechungen, 25 Jahre lang lebte und, gleichsam über die Mainlinie hinweg, auch heiratete. So wurde Heidelberg, ex post betrachtet, zum Heimatort.
Wenn ich jetzt in diese Akademie aufgenommen worden bin, so möchte ich vermuten, daß das in erster Linie wegen meiner begriffsgeschichtlichen Arbeiten geschehen ist. Nun war die Frage nach der Bedeutung eines Wortes oder eines besonderen Begriffes für mich zunächst nur eine schlichte methodische Aufgabe. Wie sollte man Quellentexte lesen, wenn nicht durch Aufschlüsselung der Sinnkreise, die von einem bestimmten Wort aus in seinen Kontext ausstrahlen – und von dort her zurück? Aber hinter dieser Selbstverständlichkeit der historischen Methode zeichneten sich immer neue Dimensionen ab, die zu erschließen – ich danke hier besonders Hans-Georg Gadamer – zum philosophischen Alltagsgeschäft gehört.
Das Aufregende einer Begriffsgeschichte besteht für mich darin: Es gibt keine geschichtliche Erfahrung, es sei denn, sie wird in bestimmten Begriffen gebündelt und versammelt. Und selbst wenn wir von vor- und außersprachlichen Erfahrungen ausgehen, müssen wir jedenfalls darüber sprechen. Das heißt, auch außersprachliche Befunde, und um solche handelt es sich weithin in der Geschichte, bedürfen ihrer sprachlichen Artikulation, um zur Erfahrung zu gerinnen und in Wissenschaft übersetzt zu werden. Und wer etwas von dieser nie restlos aufschlüsselbaren Relation zwischen Sprache und Erfahrung begreifen will, kommt nicht umhin, einen Reduktionsprozeß einzuleiten, der zu Begriffen hinführt und rückwirkend von ihnen gesteuert wird. In dieser Beschränkung liegt die Überlegenheit, aber auch die Anfechtbarkeit speziell wissenschaftlicher Begrifflichkeit.
Das führt mich zu einer gegenläufigen Vermutung, die ich als Laie unter Autoren dichterischer Texte äußern möchte. Dichtung zeichnet sich vielleicht dadurch aus, daß sie Sprache in einer Weise verwendet, die nie auf Begriffe zugespitzt werden kann. Wer einmal versucht hat, aus Dichtungen bedeutsame Sätze zu zitieren, wird wissen, wie schnell er scheitert: weil die Hierarchisierungsleistung einer Begriffsbildung von der Gesamtheit eines dichterischen Textes immer schon verschluckt wird. – So resigniert der Historiker bald: dichterische Texte lassen sich nicht in gleicher Weise sezieren wie andere schriftliche Überreste. Sie verbieten gleichsam, der historischen Forschung auf Begriffe zugespitzte Argumente zu liefern. Das zeichnet die Dichtung aus: hierin liegt ein Unterscheidungskriterium wissenschaftlich historischer und dichterischer Texte. Aber darin liegt auch die Überlegenheit von Dichtung: mehr über Geschichte aussagen zu können als ein Historiker, der auf Begriffe angewiesen bleibt, jemals zu leisten vermag. Wer sich zum Beispiel mit der revolutionären Bewegung der Farbigen beschäftigt, der wird aus Kleists Verlobung in St. Domingo und aus Melvilles Benito Cereno mehr lernen können als aus vielen Metern möglicher Quelleneditionen, die wissenschaftlich aufbereitet und ausgeschlachtet werden. Die Sprache der Dichter versammelt mehr Erfahrung als ein Historiker in seiner Sprache auf den Begriff bringen kann.
Damit ist freilich nicht der Wissenschaftsanspruch, der immer in einer begrifflichen Hierarchisierung eingelöst werden muß, außer Kraft gesetzt. Das führt mich zum Schluß auf eine Gemeinsamkeit. In jedem Fall enthält die sprachliche Aufarbeitung von Erfahrungen, sei es in der Forschung oder sei es in der Dichtung, etwas anderes als es die vor- und außersprachlichen Erfahrungen sind. Sowohl die Wissenschaft wie auch die Dichtung bieten zugleich mehr und weniger, als in der Wirklichkeit verborgen ist. Dieses zugleich ›mehr und weniger‹ ist nicht nur ein Qualitätsmaßstab – das ist es zweifellos auch –, sondern es handelt sich um eine unauflösbare Differenz, die wir täglich zu überbrücken genötigt sind, ohne sie aufheben zu können. Und deshalb muß immer aufs Neue die historische Wissenschaft und auch die Dichtung tätig werden. Und vielleicht gehört es zur Aufgabe dieser Akademie, diese Tätigkeit kritisch zu begleiten, um über die jeweils vorläufige Angemessenheit oder auch über das Scheitern zu urteilen, das nun einmal mit jeder Forschung und mit jeder Dichtung verbunden bleibt. In diesem Sinne möchte ich meinen Beitrag in Ihrem Kreis zu liefern trachten. Ich danke Ihnen.