Christoph Meckel

Schriftsteller
Geboren 12.6.1935
Gestorben 29.1.2020
Mitglied seit 1980

In der literarisch-publizistischen Klimaschleuse zwischen dem Haus des Schriftstellers und der Öffentlichkeit, in Presse, Medien und Kulturpolitik, entwickeln sich zunehmend Normen der Äußerung, die fragwürdig sind und der Poesie in den Rücken fallen. Das ist die inflationäre Masse der Statements, der Selbstdarstellungen, Preisreden, Anthologien, der Interviews und Diskussionsbeiträge, der Beiträge überhaupt. Es ist die Überflutung durch Publikation, die Beteiligung an Wettbewerben, Colloquien, Quizsendungen und Jurien, der Meinungsumfragen und Umfragen zu Problemen, von denen ein Schriftsteller keine Ahnung hat. Schließlich die Vorstellung durch den Autor selbst, die der Gewohnheit von Akademien entspricht. Ich frage mich, was in diesem Lärm beliebig, möglich, notwendig und unerläßlich ist. Ist es unerläßlich, daß ein Schriftsteller an professionellen, institutionellen und kulturellen Gewohnheiten auskunftgebend teilnimmt, sich gezwungenermaßen in ihnen wiederholt? Im Betrieb der Verlautbarungen, der von wechselnden Gesichtspunkten veranlaßten, aus häufig fernliegenden Anlässen unternommenen Beanspruchungen von Literatur ist es mir immer unmöglich gewesen, Antwort und Auskunft zu geben für jeden Bedarf. Es ist mir nicht möglich, etwa zum vierzigsten Mal, etwas zu mir und meiner Sache zu sagen, ohne zu fragen, wohin das alles führt. Und ich stelle fest, daß der Lärm die Sprache entwerten, die Gedichte ersticken, den Schriftsteller lähmen kann.

Ein Schriftsteller hierzulande kann Lesungen machen, die gewöhnlich mit Diskussionen verbunden sind. Er hat jede Chance, seine Sache zu vertreten, ausgenommen vielleicht in einem Bordell. Ich habe, durch Überlegung und Auswahl begrenzt, seit zwanzig Jahren gelesen und diskutiert, in Gymnasien, Schulen und Hochschulen aller Art, in Universitäten und Seminaren, in Instituten, Vereinen und Betrieben, in Gefängnissen, Jugendclubs und privaten Zirkeln, in Bereichen von Kunst, Literatur und Politik, Gesellschaftskritik, Pädagogik und Soziologie, im Inland, im Ausland, bezahlt und nicht bezahlt, für Wohltätigkeiten, Spenden und Hilfsaktionen (wie jeder Kollege aus Solidarität). Der wiederholte Ritus von Befragung und Diskussion, das Stereotype der Veranstaltungen, Beanspruchungen und Auskünfte, Spekulationen und Problemumkreisungen – vor allem im Rahmen der üblichen Bildungsprogramme – hatte weitgehend nichts mit der Sache zu tun, mit der Sprache selbst, ihren Formen und Substanzen, Voraussetzungen, Wirkungen und Folgen. Ich hielt das alles für unerläßlich – lebendige Fortsetzung von Literatur. Ich machte – und mache – mir diese Chance zu eigen, ihre Wirkung zu steigern durch Auftritt der Person, durch Stimme, Gespräch, Kontroverse und Argument. Das alles hat erkennbare Folgen gehabt und ist für mich selbst nur in Grenzen von Wert gewesen. Ein Schriftsteller kann zum Beantwortungsspezialisten, zum Entertainer, Verkünder, Alleinunterhalter, zum Trostapostel und Bildungslieferanten und schließlich zur Karikatur seiner selber werden. Drei Schatten neben sich selbst und der eigenen Sache, nimmt er die Zweifel und Hoffnungen anderer wahr, bezahlt sie mit Erschöpfung und Zeitverlust und kommt an den Punkt, da ihm alles fragwürdig wird. Ich nehme überall, jederzeit und auch hier das Recht für mich in Anspruch, nichts zu mir und meiner Sache zu sagen, sondern auf die Sache selbst zu verweisen. Dies ist keine Gesellschaft von Tabakspezialisten oder Bankfachleuten, die gelegentlich etwas von Sprache erfahren wollen. Hier sind Spezialisten versammelt, und ich darf annehmen, daß fast jeder etwas von mir gelesen hat. Wer will, hat die Möglichkeit, in Büchern zu lesen, und ich bitte Sie, diese Sätze nicht falsch zu verstehen. Mir liegt jeder Hochmut in der Sache fern. Wichtiger als Auskunft erscheint mir die Frage, wohin der erwähnte Lärm der Verlautbarungen führt und ob er der Sache nützt oder schadet.

Ich habe, seit ich erstmals publizierte, und das ist fünfundzwanzig Jahre her, als nicht professioneller Mensch gelebt und geschrieben, und werde nicht aufhören, das in Zukunft zu tun. Berufliches Funktionieren ist mir suspekt. Routine, Cleverness und Manier in der Sprache erscheinen mir beklemmend und lächerlich. Wie viele Schriftsteller meiner Generation sind erfolgreich und namhaft vor die Hunde gegangen durch athletisch gesteigerte Produktivität. Wie viele haben ihr Wesen durch Ehrgeiz verfälscht, durch marktgerechte Ware ruiniert, von halbwahren Forderungen entfremden lassen, in Wiederholung verbilligt oder erschöpft. Wie viele sind immer wieder zu oft zu sehn, ohne Nennenswertes mitzuteilen. Wie viele produzieren in der Befürchtung, an Position oder Einkommen zu verlieren. Ich sehe den Menschen, der Sprache macht, als einen, der nichts dergleichen zu verlieren hat. Zur Produktion – ich spreche von mir selbst – gehört vor allen Dingen das Nichtproduzieren, zur Sprache die Sprachlosigkeit und das Nichterscheinen. Der Schlaf, der Traum, das unsichtbare Leben, die Antwortlosigkeit und das offene Vergnügen, die Ablehnung alles dessen, was – auch nur im Ansatz – Verwertung, Verfügbarkeit oder Lieferung wäre, Verlautbarung an beliebige Adressen, die Mitarbeit am Warencharakter der Kunst. Es gehört dazu die notwendige Abwesenheit, auch auf die Gefahr hin, daß der Mensch verschwindet, Resonanz verliert und in der Versenkung verstummt. Die Sprache, die Strophe, braucht Ruhe um zu wachsen, bis sie gemacht und beendet werden kann. Sprache braucht – im Reißwolfklima der Zeit – in wachsendem Umfang Stille und Nutzfreiheit, den natürlichen Atem und eine Entschiedenheit, die persönlich bestimmt und privates Risiko ist. Sie braucht einen Umkreis, der unantastbar bleibt, von Erklärungsgetrampel nicht betreten wird, von Lautverstärker und Informationswert frei, vom Erstickungsverfahren durch Zweck und Gebrauchsfähigkeit. Ein Buch, ein Gedicht, kann für mich kein Gegenstand sein, der während des Schreibens zur Publikation bestimmt ist. Schreiben heißt nicht, ein Buch nach dem anderen schreiben, dann weiter schreiben und über das Schreiben schreiben, über Geschriebenes Auskunft geben nach Plan und Bedarf. Der Vers ist ein komplexes Lebewesen, dem sich nichts entnehmen oder hinzufügen läßt. Es besitzt das Recht, den Verfasser im Stich zu lassen, es wird ein Leben lang ohne Netz balanciert. Die Anmaßung, mit der die Presse voraussetzt, ein Mensch könne Auskunft geben – jederzeit –, ihr scheinbares Recht im Namen der Öffentlichkeit, die dubiosen Praktiken im Vermarkten und Werben, die Manipulationen von Büchern und Namen, sind allem, was Sprache sein kann, entgegengesetzt.

Es ist denkbar und immer wieder der Fall, daß ein Mensch, der schreibt, sich allem verweigert, was ihn umgibt als Gesellschaft und Literatur. Es ist ein romantischer Purismus denkbar, der jede Stellungnahme für falsch erklärt. Das ist eine Frage persönlicher Glaubwürdigkeit, betrifft Konzeption und Statur des einzelnen Menschen und kann über jeden Zweifel erhaben sein. Undenkbar ist diese Verweigerung für mich. Sie könnte für meine Sache nur fragwürdig sein. Sie ist aber denkbar als Forderung für das Gedicht. Ich halte es für möglich, und also für machbar, das Gedicht im notwendigen Raum aus Ruhe zu lassen, und trotzdem mit Öffentlichkeit zu tun zu haben. Die Sprache und ich, wir müssen mitten hindurch. Reservat, Umgehung und Schonzeit besitzen wir nicht. Es ist ein Dilemma, mit dem sich ein Mensch, der schreibt –professionell oder nicht –, zu konfrontieren hat, in wachsendem Maß zu konfrontieren hat, sofern er nicht zum verbalen Hampelmann wird. Ein Zuviel an Sagen, Meinen und Behaupten, an Wortlaut und Diskussion zurückzuweisen, die für ihn notwendigen Formen selbst zu bestimmen und nicht bestimmen zu lassen durch Öffentlichkeit.

Eine alte Tatsache ist entscheidend, die Person und Arbeit des Schriftstellers relativiert, und die mich jederzeit veranlassen wird, über Lyrik und Kunst hinauszugehn. Es ist die Geschichte und ihre Gegenwart. Sprache war immer mehr als ein Ding der Kunst und niemals nur in der Literatur zu Haus. Es ist kein Zufall, daß die Verbrennung von Wahrheit zuerst die Bücher und die Schriften betraf, und was verdächtigt, verfolgt und vernichtet wird, zuallererst immer Menschen der Sprache sind – jeder Art von Sprache, Kritik und Literatur, der entsprechenden Wissenschaften und Philosophien. Ich kann das sagen, weil ich Zeichner bin, im Vergleich zweier Möglichkeiten lebe und weiß, daß Bildende Kunst weit weniger öffentlich ist, was Vermittlung und Wirkung von Erkenntnis betrifft. Sprache enthält Bazillen und Energien, die direkter zu wirken scheinen als Bild und Skulptur, der Macht verdächtiger sind als Musik und Film. Das ist keine Überbewertung von Literatur, es ist die Gewißheit einer zusätzlichen Chance. Auf die Wahrnehmung dieser Chance kann ich nicht verzichten, ohne mich selbst und die Sprache zu kompromittieren. Diese Möglichkeit durch beliebige Mittel zu schmälern, ihre subversiven Kräfte zu uniformieren, wäre in jeder Hinsicht mein Untergang.

Die Literatur ist kein Zuhause für mich, in dem sich mit fester Einrichtung leben ließe. Das von mir Gemachte gibt mir keinen Rückhalt, und ich erwarte keinen Rückhalt von ihm. Doch tut es mir manchmal gut, daran zu denken, den einen und anderen Satz geschrieben zu haben. Das ist ein Anfang, von dem ich ausgehen kann. Ich lebe und atme in dem, was noch nicht gemacht ist, in Sprachen, Rhythmen, Erkenntnissen, die bevorstehn, und nicht nur mir und meiner Sache bevorstehn. Mein Zuhause ist ohne Dach und Versicherung dort, wo das einzelne Wort als Grundstein gehandhabt wird, ich weiß nicht wofür, es gibt aber ein wofür, ich kenne es wie die Luft und erkenne es wieder: in jedem Satz, der mich entbehrlich macht.