George Steiner

Schriftsteller, Philosoph und Literaturwissenschaftler
Geboren 23.4.1929
Gestorben 3.2.2020
Mitglied seit 1981

Zu den höchsten Gaben dieser Akademie gehört der Büchner-Preis. Meine Mutter ist eine geborene Franzos, aus der Familie von Karl Emil Franzos, dem wir das fast wundersame Überleben des Wozzeck schulden. Würde dies mir erlauben zu sagen, daß ich bei meinem Eintritt in dieses hohe Haus vielleicht nicht ganz ein Fremdling bin?

Ich wuchs auf in dunkler Zeit. Die Mehrsprachigkeit, welche meine Eltern im Alltag in Paris pflegten, der sachliche Unterricht im Ernst des Denkens und der Zeitgeschichte, welchen ich meinem Vater verdanke, waren eine bewußte Vorbereitung zum kommendem Einbruch der Nacht. Die Lektion war folgende: überleben heißt Gast sein unter den Menschen. Der Jude hat Wurzeln nicht in diesem oder jenem gefährdeten Erdfleck, sondern in der Zeit und in der Erbschaft des Geistes.

Auf eben diesem Grund stand meines Vaters Bibliothek. Denke ich an sie zurück, so scheint sie mir den genius loci des mitteleuropäisch-jüdischen Humanismus zu verkörpern. Im Zentrum die Propyläen-Ausgabe von Goethe und eine stolze Reihe der Erst-Ausgaben Heinrich Heines, in dessen Existenz zwischen Ländern und Sprachen, in dessen tragischer Ironie und lyrischer Skepsis mein Vater das Vorbild und zweideutige Symbol des emanzipierten, doch immer bedrohten Judentums sah. Daneben standen Shakespeare, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, Freud, und die Meister des französischen Realismus von Balzac bis Proust. Und nahe daran, die Titanen aus Rußland – Turgeniev, Dostojevski und Tolstoi. Ich nenne diese Namen, weil sie eine sehr charakteristische Konstellation bilden: die der intellektuellen und ethischen Anschauung und Gefühlswelt der liberalen Jüdischen Gemeinde in Prag und Wien am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. In jener problematischen jedoch gesegneten Zwischenwelt, im Nachmittagslicht des österreichisch-ungarischen Feudalismus, kündigten sich der Glanz und die Dämonie unserer Epoche an. Mein Vater kannte Freud, er hörte Karl Kraus lesen und Wedekind spielen, er war (und blieb) Wagnerianer im besonderen Sinn von Gustav Mahlers Opernregie. Er stellte Schnitzlers Reigen auf ein Regal, welches seinen kleinen Sohn nur von weitem verlocken durfte.

Sehr wahrscheinlich sind mein ganzes Leben und die Schriften, denen ich die Freude dieses Abends verdanke, nichts andres als ein immer scheiternder Versuch, das Zentral-Europäische, im vollem Sinn des Wortes, wieder zu finden. Oder zu fragen – und hier gibt es keine für unser Verständnis befriedigende Antwort –, wie es dazu kam, daß eben aus dem Schwer- und Mittelpunkt des klassischen Humanismus die Ideologie und Praxis des endgültig Unmenschlichen entsprang. Ich wollte wissen, nein: das ist Hochmut, ich wollte richtig fragen, ob es grundsätzliche Beziehungen oder sogar kausale Vermittlungen gibt zwischen den Anforderungen, welche das abstrakte Denken, die hohe und daraus belastende Kultur an den Menschen stellt, und der psychologisch-politischen Rache der Barbarei. Wie konnte es sein, daß der tiefste Denker eines von Dichtern durchleuchteten Humanismus, der Metaphysiker des Logos, der uns, unvergleichlich, unsere Pflichten als ›Hirten des Seins‹ und Götterkinder vorspricht, ein Hakenkreuz im Knopfloch trug und – sei es nur für eine kurze Zeit – die Sprache des Unmenschen im Munde führte? Eine Aporie, deren elementares Mysterium gerade darin sich abspiegelt, daß es zwischen Martin Heidegger und Paul Celan zu einer organischen, noch kaum geklärten Wahlverwandtschaft kam.

Zunächst stellte ich die Frage in Amerika. Wo sie nicht am Platz war. Dort ist die Heimat des Verzeihens und der Großzügigkeit. Aber auch gegenüber dem Mittelmäßigen, dem Philiströsen. Vielleicht lauert in der Herzensgüte, in der immanenten und weltlichen Utopie des amerikanischen Liberalismus und Lebensstils, die allertiefste Gefahr für ein authentisch kulturelles Wertsystem, für den unvermeidlich elitären Adel des Geistes, der für Sie und mich, in diesem Rahmen, das Höchste immer war und weiter bleibt. Im Terror, in der brutalen Erpressung des östlichen Totalitarismus besteht, paradoxerweise, eine stete Rückversicherung für das Weiterstreben des Gedankens und der Kunst. Der KGB-Häscher, der byzantinische Zensor sind mit uns, mit Ihnen und mit mir, im Grunde einig. Sie und wir wissen, daß ein Mandelstam-Gedicht, ein Roman Pasternaks, sogar eine Lukàcs-Seghers-Debatte über Realismus, das Allerwichtigste, das Allergefährlichste sind in der inneren Existenz und Entwicklung des Staates. Plato wußte Bescheid über die Dichter. Die Zensur, lehrt Borges, ist die Mutter der Metapher. Von Puschkin bis Brodsky zwingt Tyrannei das Poetische, das Geistige, empor. Östlich von der Mauer bleibt ein Hegel-Kommentar das Wagnis der privaten aber auch der öffentlichen Seele. Welches Gedicht, welches ontologische Argument könnte Amerika erschüttern?

So führe ich mein Leben in Europa, in diesem so oft todmüden, egoistisch-verworrenen, von mitleidlosen Gespenstern heimgesuchten Standort des Fragens. Meinen zwei Kindern wünsche ich manchmal den noch ungeschlossenen Horizont amerikanischer Hoffnungen, oder die historische Logik und Heimkehr Israels. Ich bleibe als Gast im Raum der kategorischen Kaffeehäuser, der sich von Lissabon bis Leningrad (nicht aber zum asiatischen Moskau) erstreckt. Ich nenne die Kaffeehäuser ›kategorisch‹, weil sie wahrhaft eine Art a priori des freien Grübelns spenden. In ihnen läßt sich schreiben und Schach spielen. Dort haben Verschwörung und Traum freien Eintritt. Wo sonst ist die Einsamkeit – und jeder Fragende ist einsam – so menschen-reich? Aber zu diesem Raum, darf ich es noch einmal betonen, gehört die unerschöpflich leidend und für Auferstehung begabte Welt Ost-Europas. Ein Europa ohne Weimar oder Krakau, ohne Prag oder Odessa, bleibt verstümmelt.

Ich bin Professor in Genf, wo fast jeder Mann Gast ist, und wo sich die Sprachen, Straßen und religiös-geschichtlichen Auffassungen unseres alten Europas treffen. Dort gibt es Berge, in denen die Quellen des Schweigens noch murmeln. Mein anderes Quartier ist in England, in Cambridge, wo ich Fellow an einem College bin, das heißt, Mitglied eines Klubs, dessen Privilegien und Gebräuche ins Mittelalter zurückreichen.

In meinem Unterricht, in meinem Schreiben, geht es um das Geheimnis der engen Verflochtenheit des Transzendenten und des Verheerenden in der menschlichen Sprache. Es geht um das unermeßliche Geschenk, welches uns in Babel zuteil wurde: die Freiheit, die Lebenserfindung und Bejahung in der Vielsprachigkeit – da jede Sprache ein neues Fenster öffnet auf die Landschaft des Seins. Es geht aber zugleich um die Messerklingen des Mißverständnisses zwischen den Sprachen und den Menschen, die sie sprechen.

Daß es solches nicht immer geben muß, bezeugt dieser Abend.