Per Øhrgaard

Germanist, Publizist und Übersetzer
Geboren 6.2.1944
Mitglied seit 2004

Friedrich-Gundolf-Preis

Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie, meine Damen und Herren,

26. Juli 1960: Kafka, Der Prozeß, Fischer Bücherei Exempla Classica, 29. Juli 1960: Hermann Broch, Der Versucher, rororo, 3. August 1960: Robert Musil, Drei Frauen, ebenfalls rororo. Das waren einige meiner ersten Bucherwerbungen in deutscher Sprache, die ich so genau angeben kann, weil ich die Ausgaben noch besitze. Gekauft wurden sie während eines Ferienaufenthaltes bei Verwandten in Hamburg, gelesen wurden sie zum Teil auch schon dort, denn die Verwandten waren alte Leute und konnten mich, den Sechzehnjährigen, nicht ständig unterhalten. Zum Teil gelesen, sage ich, denn so einfach war die Lektüre auch wieder nicht; die alten Leute sprachen kein Dänisch und konnten mir nichts übersetzen, ein Wörterbuch hatte ich nicht dabei, und so grübelte ich bereits über das Wort „Pfaff" auf den ersten Seiten von Brochs Versucher, las aber munter weiter. Daß mir Hermann Broch überhaupt ein Begriff war, lag an meiner Bekanntschaft mit dem dänischen Schriftsteller Villy Sørensen, einem der frühesten Broch-Interpreten, und daß Thomas Mann und Goethe in dieser Liste nicht vorkommen, lag daran, daß sie ohnehin Schullektüre waren. Im folgenden Jahr (1961) verbrachte ich einen Monat beim Ferienkurs für Germanisten in Tübingen, kaufte am 23. August Die Blechtrommel von Günter Grass, der am Vorabend dort gelesen hatte, und bekam von ihm ein Autogramm, wobei keiner von uns voraussah, daß ich fünfzehn Jahre später sein Übersetzer werden und dann bleiben sollte. Daß ich Germanist werden wollte, stand indessen für mich schon damals, noch ein Jahr vor dem Abitur, fest. Ich lernte dann in Kopenhagen, Berlin und Kiel, bei Steffen Steffensen und Sven-Aage Jørgensen, Wilhelm Emrich und Peter Szondi, Erich Trunz und Karl Otto Conrady und anderen mehr.

Sie hören es schon – es geht um erzählende Prosa. Ich kann nicht leugnen, daß mir diese literarische Gattung bis heute am nächsten steht, wenn auch – den Lyrikern sei es gesagt – weniger ausschließlich als in früheren Jahren. Ich schrieb über Conrad Ferdinand Meyer und war dabei von seiner Prosa mehr angetan als von den meisten seiner Gedichte. Ich habe mich später nicht über Goethes Lyrik, sondern über Wilhelm Meisters Lehrjahre habilitiert, und ich habe auch vorzugsweise Prosa übersetzt, was nicht nur damit zusammenhängt, daß überhaupt Prosa eher als Lyrik übersetzt wird, sondern auch mit meinen Fähigkeiten und mit dem Gegenteil davon.

Philologie und Übersetzung haben sich in meinem Leben ergänzt, wobei nicht immer auszumachen war, was das jeweils andere unterstützte. Die philologischen Kenntnisse haben, den Übersetzungen gut getan, was wohl niemand überraschen wird. Aber das Umgekehrte gilt auch, denn als Übersetzer liest man noch genauer denn manchmal als Philologe: Als ich vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren Kafkas Prozeß neu übersetzte, entdeckte ich hin und wieder Details, die mir trotz wiederholter gründlicher Lektüre, auch in Seminaren mit Studenten, bis dahin entgangen waren.

Die Vorliebe für die Prosa heißt auch, das ich als Philologe immer jene Kollegen besonders geschätzt habe, die auch erzählen können. In den Anfängen meiner akademischen Laufbahn, in den siebziger Jahren, war ich drauf und dran, alles wieder aufzugeben, weil ich mit der damals ausufernden Theoriebildung nicht mitkam, und ich bilde mir bis heute ein, daß dies nicht nur an meinen unzulänglichen Denkwerkzeugen, sondern auch an einem inneren Widerstand lag. Mir verschwanden die literarischen Werke hinter einem eisernen Vorhang von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten.

Nichts gegen Theorie und Philosophie! Ich darf mich rühmen, als Übersetzer sowohl die Ästhetische Erziehung des Menschen als die Dialektik der Aufklärung den Dänen ein wenig näher gebracht zu haben. Doch wenn es um Literatur geht, müssen die Werke durch die Theoriebildungen hindurch noch sichtbar und greifbar sein, sonst macht das Ganze wenig Sinn. Wir beschäftigen uns ja nicht mit naturwüchsig entstandenen Gebilden. Unsere Objekte sind sozusagen selbst Subjekte, und die Annäherung an sie muß in der Form des Dialogs stattfinden; im hermeneutischen Vorgang steht immer nicht nur das Werk, sondern auch der Interpret auf dem Prüfstand.

Der dänische Literat Georg Brandes schrieb um 1880 aus Berlin eine kleine Betrachtung über Bildung und definierte sie folgendermaßen: „Bildung im Sinne von Schöpfung, Gestaltung, bedeutet Universalität im Gegensatz zum beschränkten Spezialistentum, und Bildung im Sinne von Formung bedeutet die eigene persönliche Behandlung und Bearbeitung vorhandener Kenntnisse im Gegensatz zum unpersönlichen, kollektiven Charakter wissenschaftlichen Wissens." (Berlin als deutsche Reichshauptstadt, aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Berlin: Colloquium Verlag 1989, S. 131)
Literaturwissenschaftliches Wissen muß immer auch zugleich Bildung sein: es bewährt sich – oder auch nicht – vor dem Werk, kann den Versuch aber nur machen, wenn Eigenes ins Spiel gebracht wird, und das heißt, wenn erzählt wird. Die Philologie so zu betreiben, daß die Erzählung einerseits nie und nimmer an die Stelle des Arguments tritt, andererseits aber noch im stärksten Argument aufscheint, steht mir als ein erstrebenswertes Ziel vor Augen. Sans comparaison, aber immerhin: In einem Entwurf Schillers für einen Brief an Fichte findet sich (jetzt über Rüdiger Safranski zitiert) der Satz, daß „Schriften, die einen von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich werden und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten [...]" (zit. nach Rüdiger Safranski, Friedrich Schiller oder Die Erfindung des deutschen Idealismus. München: Hanser 2004, S. 428)

Sprache und Dichtung – für diese beiden ist die Deutsche Akademie ins Leben gerufen worden. Ein Dichter bin ich nicht, möchte aber als Interpret und Übersetzer der Dichtung dienen und dabei mit der Sprache, sei es die deutsche, sei es meine eigene, so umgehen, daß sowohl sie als ich uns auf die nächste Begegnung freuen. Ich danke Ihnen von Herzen für die Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Akademie.