Valentina Di Rosa

Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin
Geboren 15.11.1964
Mitglied seit 2024

Lieber Herr Präsident,
liebe Mitglieder der Akademie,

sehr verehrte Damen und Herren,
als ich gestern unterwegs nach Darmstadtauf dem Weg von Neapel nach Frankfurt im Flugzeug saß, versuchte ich rückblickend zu überlegen, wann denn meine Reise nach Deutschland überhaupt begonnen habe.
Ich schaute hinunter durch das kleine Fenster linkerseits und jenes freie Schweben über Wolken vermittelte mir einen Augenblick lang die Illusion, auf einer imaginären Landkarte Orte, Stationen, Trajekte entlang den Süd-Nord-Meridianen der letzten Jahrzehnte erkennen zu können.
In der Stille der halbdunklen Kabine wurde mir die Latenz einer akustischen Spur plötzlich bewusst, denn es war ja eigentlich der Sound der deutschen Sprache, der mir als erste Faszination begegnete. Und zwar im Gymnasium – es handelte sich um einige bis dahin unerhörte Wortklänge, welche die Philosophie-Lehrerin in ihren Unterrichtstunden immer wieder gern fallen ließ. Indem sie sich durch die Bankreihen unentwegt hin und her bewegte, schleuderte sie mit energischem Gestus Begriffe wie GRUND, GEIST, SEHNSUCHT, DASEIN, WELTANSCHAUUNG in den Klassenraum.
Eine solch peripatetische Methode verband sie allerdings mit der Warnung, es seien alles unübersetzbare Denkbilder – da könne die italienische Sprache gar nicht mithalten.
Als es nach dem Abitur darum ging, sich für ein Studium zu entscheiden, kam mir das italienische Fremdwort Germanistica vertraut entgegen. Es versprach die Möglichkeit, über die festgelegten disziplinären Grenzen hinaus einige meiner überwiegenden Interessen – Philosophie, Philologie, Ästhetik, Poesie – miteinander zu bündeln. Es versprach auch die Möglichkeit, vom Studium als Medium des Eintritts in die weite Welt, die stets jenseits der Herkunft beginnt, unmittelbar zu profitieren.
Bei der ersten Bewerbung um ein DAAD-Stipendium, gaben nur zwei aus meinem Jahrgang das Ziel West-Berlin als Präferenz an. Was wir an der Uni kennengelernt hatten, war der Mythos der 1920er Jahre, was wir im späten Herbst 1987 dort vorfanden, war eine bunte Ansammlung von verschiedenartigen Fraktionen: die Anarchisten, die Idealisten, die Existentialisten, die Alternativen, die Punks, die Chaoten. Alle zusammen vereinte eine zwischen Melancholie und Revolte meistens unentschiedene Stimmung. Einige meinten, das System boykottieren zu müssen, andere pflegten nur zu wachen, zu lesen oder lange Briefe zu schreiben.
Ohnehin ging es nicht nur um die private Innerlichkeit. Spätestens das verkürzte Diagramm der alltäglichen Wege durch Berlin als Frontstadt gemahnte an die Drastik seines Ausnahmezustands.
Aus der zeitlichen Koinzidenz zwischen Studienabschluss und Mauerfall ergab sich wenig später die zunächst freilich weniger wissenschaftlich als vielmehr taktisch motivierte Idee einer Promotion. Angesichts der neuen Umstände bestand die primäre Absicht darin, den Aufenthalt in Berlin so weit wie möglich zu verlängern.
Schreiben, Umschreiben, Überschreiben, Löschen erwies sich vor diesem Hintergrund als ein besonders langwieriger Vorgang, der an sich nicht nur meine Dissertation, sondern auch die ganze Stadt simultan involvierte. Berlin schien, sich selbst wie ein neu zu formulierender Text zu verhalten, der mit divergierenden Fassungen, Auslassungen, Hinzufügungen und entsprechend offenen Enden zu hantieren hatte.
Waren bis dahin Romantik und expressionistische Avantgarde meine Schwerpunkte gewesen, so trat spätestens ab Mitte der 1990er Jahre die Gegenwartsliteratur in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Die Transformationen der Wirklichkeit schärften den Blick für die neuen ästhetischen Experimente, die es in meinen Augen galt, gleichsam in Echtzeit zu verfolgen, um sie als Kompass inmitten des Zeitgeschehens verwenden zu können.
Das akademische Lehren und vor allem die Beschäftigung mit Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens sekundierten diesem Prozess. Auch in diesem Fall galt es – und gilt es weiterhin – „Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke zu durchmessen“ (Walter Benjamin), Bedeutungsmigrationen von einer Welt in die andere zugleich zu gestalten und zu reflektieren.
Bis heute halte ich es für eines der schönsten Privilegien meines Berufs, in mehr als nur einer Sprache existieren zu können. Dies ermöglicht nicht zuletzt die Freude an immer neuen Wortbegegnungen, die auch Freude an ihrer jeweils eigensinnigen Art des Meinens ist. Seien es Fachsprachen oder Honigprotokolle, Etymologischer Gossip oder Regentonnenvariationen, Rückwärtstagebuch oder Einübung ins Paradies, fischgrätenstrich oder Dämonenräumdienst, Äquidistanz oder Gedanken Über die Dummheit der Stunde – immer handelt es sich um ebenso offene wie inspirierende Einladungen, singuläre Erprobungssysteme der subjektiven Bereitschaft zur Peripetie.
Dass die provisorische Summe all dieser mäandernden Trajekte eines Tages die Reise nach Darmstadt veranlassen würde, hätte ich mir – wie Sie vermutlich ahnen – gar nicht vorstellen können.
Ich danke für die große Ehre, in die Akademie berufen worden zu sein.