Schriftsteller, Publizist und Übersetzer
Geboren 29.12.1976
Mitglied seit 2024
Ich wurde 1976, unweit vom Stacheldraht, am Eisernen Vorhang geboren, in der Stadt Bratislava, die früher auch Pressburg und Poszony hieß, in einer Metropole mit dem Todesstreifen, mit dem Anblick von Wachtürmen und mit dem Gebell der Hundestaffel. Die Grenze bestand damals aus fast drei Meter hohen Stacheldrahtzäunen sowie Landminen und wurde 24 Stunden pro Tag bewacht. Bis 1989 versuchten tausende MitbürgerInnen, die March zu durchschwimmen oder sogar mit Hilfe eines Fluggeräts zu überwinden. Den hunderten Toten wurde unmittelbar vor der Thebener Burg ein Mahnmal gesetzt.
Mein Großvater hieß Stefan Kirchmayer, was sehr bayerisch klingt, er war aber ein Zipser Deutscher. Zips, slowakisch Spiš, eingebettet zwischen den Bergen, gehört zu den spannendsten europäischen Grenzregionen mit einer reichen Geschichte voller Widersprüche, Vertreibungen und ethnischen wie religiösen Konflikten. Die so genannten Zipser Sachsen mit ihren erfolgreichen Handwerksbetrieben und zahlreichen Handelsorganisationen haben viele Kulturdenkmäler angeregt, wie den gotischen Holzaltar der Leutschauer Jakobskirche, der als höchster der Welt gilt. Auch in der Renaissance entstanden bedeutende Kunstwerke, die das Selbstbewusstsein der königlich privilegierten Zipser Städte spiegelten. Stefan Kirchmayer wurde nicht vertrieben, er war aber ein Bürger zweiter Klasse. Er sprach Potokisch, eine fast vergessene Ortsmundart, ein oberzipser Dialekt, auch Zipserisch oder Zipser Sächsisch genannt.
Stefan Kirchmayer sprach ein komisches altmodisches Deutsch, aber seine Sprache bedeutete damals für mich auch eine große Befreiung. In meiner Kindheit im realsozialistischen Bratislava war Deutsch mein letzter Kontakt mit dem Westen – dank des österreichischen Fernsehens und Radios. Die Wellen des Rundfunksignals konnte man trotz viel Bemühens nicht stören. Ich hatte sofort und täglich auch Kontakt mit der deutschen Sprache. Mein Westen war schwarzweiß und winzig. Als Kind habe ich viel ORF geguckt, meistens spät in der Nacht, als die Eltern schon im Bett lagen. Das Schauen und Hören hatten eine besondere Wirkung. Medien kennen keine Grenzen und haben mir früh bewusst gemacht, dass die Wirklichkeit, in der ich lebe, nur eine einzige von unzähligen möglichen Realitäten ist. Alles könnte anders sein. Ähnliche Erfahrung hatte ich später mit der Literatur gemacht. Die Slowakei war damals noch eine Kolonie Russlands. Dank Nachrichten auf Deutsch konnte ich etwas über die Missstände wie den Reaktorunfall in Tschernobyl, die Kerzendemo in Bratislava im März 1988 oder die Montagdemos in der DDR erfahren.
Jede Woche kaufte ich mir in der Trafik die Volksstimme. Im Zentralorgan der KPÖ war nämlich auch das Programm des österreichischen Fernsehens und Radios abgedruckt, an das man nirgendwo sonst in der Tschechoslowakei herankam. Diese Stimme des Nachbarvolks, die im Land ihrer Entstehung kaum gelesen wurde, war 60 Kilometer weiter nordöstlich Kult, das einzige deutschsprachige Printmedium von jenseits des Eisernen Vorhangs. Ich bin mir sicher, dass die Wochenendausgabe mit der 8-seitigen illustrierten Beilage Wochenend-Panorama
in Bratislava mehr und hingebungsvollere Leser hatte als in ihrem Heimatland. Die Volksstimme war in dem Kiosk immer gleich vergriffen, und oft wurde sie gegen ein Bakschisch unter dem Ladentisch verkauft. In unserem Wohnhaus wurde die Zeitung von Tür zu Tür weitergereicht und von den deutschsprachigen Familien wie eine Reliquie gehütet.
Am 10. Dezember 1989, während der Samtenen Revolution, an einem frostigen, strahlenden Tag, bin ich zusammen mit einer Viertelmillion MitbürgerInnen zum Marsch Ahoj, Európa! / Hallo, Europa! gegangen. Die Grenzsicherung in Berg war so überfordert, dass die Pässe nicht kontrolliert wurden. Zum ersten Mal betrat ich die freie Welt. Ganz Wolfstahl stand auf den Straßen oder in den Fenstern. Zehntausende versammelten sich am Ufer in Hainburg an der Donau.
Der Fluss Donau und die deutsche Sprache wurden zu meinem Schicksal.
Deutsch ist ein Teil meiner Identität. Ich bin Übersetzer geworden, von Robert Walser, W. G. Sebald, Dea Loher, Reinhard Kleist oder Martin Pollack. 10 Jahre arbeitete ich im Goethe-Institut in Bratislava.
Seit 2024 schreibe ich deutlich weniger literarische Texte. Ich bin seit Monaten auf einer ungewöhnlichen Heimatreise als Redner bei den Protesten. In den europäischen Medien wurde im vergangenen Jahr viel über den Rechtsruck in der Slowakei berichtet, über die Radikalisierung und Brutalisierung der tief gespaltenen Gesellschaft. Wir wurden als warnendes Beispiel für die Katastrophe, in die eine Koalition mit den Rechtsextremen führt, herangezogen. Das war leider nicht genug. Selbst in viel reicheren und besser funktionierenden Staaten wählen immer mehr Menschen nationalpopulistische, kremlfreundliche Politiker. Die Tendenz zur Autokratie ist zu einem globalen Problem geworden. Mit den Neofaschisten zu regieren ist – ein Phänomen des digitalen Zeitalters – kein Tabu mehr.
Wird die liberale Demokratie in meiner mitteleuropäischen Region das 21. Jahrhundert überleben? Immer deutlicher zeichnet sich ein starkes Bündnis zwischen der globalen Tech-Oligarchie und den neuen rechten Regierungen ab. Auch die slowakische Kultusministerin Martina Šimkovičová, politisch rechtsaußen, verdankt ausschließlich sozialen Netzwerken ihre steile politische Karriere. Die Entstehung einer fünften Kolonne des totalitären Russlands droht bald direkt in der Mitte des Kontinents. Die sich anbahnende SK-HU-AT-CZ-Allianz kleptokratischer Autokraten ähnelt auf der Landkarte der alten Donaumonarchie. Oder erinnert sie eher an die Broch’sche „fröhliche Apokalypse“?
Ich lerne, wie Basisdemokratie funktioniert, ich erlebe, wie stark die Zivilgesellschaft in der Slowakei immer noch ist. Demokratie ist harte Arbeit. Es ist auch eine Inspiration und Freude.Das gibt mir viel Energie und Hoffnung, dass Veränderungen möglich sind und die Slowakei noch nicht verloren ist. Ich verlasse gerne meine Bratislavaer-Blase, setze mich mit anderen Meinungen auseinander, polemisiere und höre mir ganz andere Standpunkte an. Ich denke, es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit, auch außerhalb des Zentrums, einen unmittelbaren Einblick in das aktuelle kulturelle Geschehen erhält. In Poprad, vorher Deutschendorf, habe ich zwei Senioren kennengelernt, die im Jahr 2024 sogar 23 Demonstrationen organisiert haben, als Freiwillige, nur mit Spenden. So spontan kann die authentische Gesellschaft, eine neue Gemeinschaft, die politischen Entscheidungen beeinflussen und gestalten. Informelle Hierarchien oder dominantes Redeverhalten wird dort regelmäßig thematisiert um eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.
Schauen Sie öfters Richtung Osten: Der Blick in ein Chaos enthält die Keime auch Ihrer Zukunft.