Ingo Schulze

Schriftsteller
Geboren 15.12.1962
Mitglied seit 2006

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

dieses Vor-Sie-Hin-Treten lässt sich weder mit irgendeiner bisherigen Prüfung noch mit irgendeinem bisherigen Auftritt vergleichen. Es hat seine Entsprechung am ehesten in den Träumen eines Jungen, dessen Alter ich auf dreizehn oder vierzehn Jahre schätzen würde, der sich möglichst schnell einen Namen machen wollte, weil er glaubte, es wäre dann einfacher, berühmte und interessante Leute kennenzulernen.

Ich glaube nicht, dass solche Träumereien spezifisch sind für jemanden, der 1962 in Dresden geboren wurde. Doch sicher begünstigten der Ort – eine so kunstsinnige wie selbstverliebte Stadt, in der zugleich das Bürgerliche hochgehalten wurde – als auch die Zeit, die jedem Wort eine heute kaum noch vorstellbare Aufmerksamkeit zu Teil werden ließ, derartige Sehnsüchte.

Meine Mutter, alleinerziehend, von Nachtdiensten geplagt, aber ihren Beruf liebend, hatte selbstredend den größten Einfluss auf mich. In der Folge waren es überhaupt Frauen, die an der Erziehung meiner Gefühle Anteil hatten. Den Umgang mit Männern, die mir als Lehrer, Trainer oder gefürchtete Väter von Klassenkameraden entgegentraten, musste ich erst erlernen.

Ich habe mich schon im Kindergarten vor der Armee gefürchtet und schöpfte Trost aus der Bemerkung einer Nachbarin, vielleicht wäre ja alles ganz anders, wenn ich achtzehn sei. Aber darauf zu hoffen, gab ich schnell auf.

Aus Faulheit habe ich erst spät begonnen zu lesen. Zu Hause wurde aber viel erzählt und vorgelesen. Vergeblich bemühte ich mich, meinem Leben dieselbe Intensität zu verleihen, wie ich sie aus mündlichen und schriftlichen Geschichten kannte.

1981 legte ich das Abitur an der Kreuzschule in Dresden ab und wurde vom November 81 bis April 1983 Soldat der NVA in Oranienburg. Das Kriegsrecht in Polen verlieh der als Schüler gestellten Frage, ob man den Wehrdienst verweigern sollte oder nicht, plötzlich eine sehr unmittelbare Bedeutung.

Während dieser Zeit schrieb ich erste Erzählungen.

In Jena studierte ich Latein und Altgriechisch, dazu ein bisschen Germanistik und Kunstgeschichte. Ich hatte Glück mit einigen Hochschullehrern die zu Freunden wurden und von denen ich in Gesprächen außerhalb der Universität vieles von dem lernte, was auch noch meine heutige Sichtweise prägt.

Nach Altenburg kam ich 1988 als Schauspieldramaturg. Das Theater, zumindest jenes, das ich kennen lernte, war geprägt von Autonomie im Alltag und einem ungewöhnlichen politischen Freiraum. Der Herbst 89 und das Frühjahr 90 waren auch für mein Leben ein Umbruch, ein Weltenwechsel. Eben noch fast ein Berufsrevolutionär, wurde ich aus derselben Intention heraus ein Zeitungsmitbegründer. Die Währungsunion schien alle Worte überflüssig gemacht zu haben. Offenbar konnte man alles tun und lassen, sofern es sich rechnete. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, korrespondierte mit meinem erstmaligen Interesse für Geld. Aus dem Schreiber wurde ein Journalist und schließlich ein Anzeigenblattverleger.

In dieser Eigenschaft entsandte mich ein Geschäftsmann Anfang 1993 nach St. Petersburg, um dort das erste kostenlose Anzeigenblatt aufzubauen.

Sehr vereinfacht gesagt, hat mich St. Petersburg zum Schriftsteller gemacht. Dort begriff ich, dass ich nicht weiter nach meiner eigenen unverwechselbaren Stimme suchen musste, sondern dass es angemessener ist, sich der Welt nach dem Resonanzprinzip zu nähern, so wie es Alfred Döblin praktiziert hat. Seine Forderung, den Stil immer aus dem Stoff kommen zu lassen, ist zu einer Maxime für mich geworden.

Über Literatur spreche ich lieber aus der Sicht des Lesers. Denn als Leser kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich Literatur brauche, weil sie mich mit meinen Erfahrungen nicht allein lässt, weil sie diese an Menschheitserfahrungen misst.

Seit 1993 lebe ich in Berlin, ich bin verheiratet, wir haben zwei Töchter.

Als Ungläubiger erhoffe ich mir von der Akademie, die ja beglückender Weise älter ist als die meisten Religionen, einen Ort des freundschaftlichen Disputs und der Verständigung. Wenn ich die Akademie auch als eine eminent politische Einrichtung auffasse, so vor allem deshalb, weil sie eine relativ unabhängige Institution ist und weil ich keinen anderen Ort wüsste, der geeigneter wäre, wieder grundsätzliche Fragen zu stellen. Mein Problem ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens unter der Lawine einer selbstverschuldeten Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Begriffe wie Freiheit und Demokratie zunehmend zum Popanz macht.

Ich kenne die Gepflogenheiten dieser Akademie noch nicht, ich freue mich aber und danke Ihnen, dass Sie mich hierher gerufen haben.