Kunsthistoriker
Geboren 26.1.1965
Mitglied seit 2024
Begegnung eines Lesers mit der Literatur. Der Anfang ist recht gewöhnlich, die Fortsetzung vielleicht schon weniger. Ich bin in einer westdeutschen Kleinstadt aufgewachsen, in einem Klima, das ich mit zunehmendem Alter als bedrückend, später auch als feindselig empfand. Damals las ich Peter Handkes Die Stunde der wahren Empfindung, die Erzählung eines Mannes, der eines Morgens mit dem Bewusstsein erwacht, nicht mehr dazuzugehören und sein gewohntes Leben nur noch der Form nach weiterzuführen. Ich las dieses Buch wie man im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren eben liest – in der vermessenen Vorstellung, niemand sonst verstehe diesen Text so gut wie ich. 1987 begann ich mein Studium in Bonn: Kunstgeschichte, Neuere deutsche Literatur, Philosophie. In diesem Jahr erschien Handkes Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers. Darin ist die Rede von einem Gang des Erzählers durch die Salzburger Innenstadt, der ihm unversehens zu einer Peinigung gerät: Der eine will für sein Kind ein Autogramm, ein anderer stellt sich dem Schriftsteller in den Weg, erhebt den Zeigfinger und verkündet feierlich »Ich verfolge Ihre Literatur!«, andere rufen ihn von hinten an, und richten, als er sich umwendet, ihre Kamera auf ihn. »[…] hätte er«, schreibt der Erzähler abschließend, »in seinem Beruf die Möglichkeit, neu anzufangen, dann dürfte es von ihm kein einziges Abbild mehr geben!« – Das Buch, das diese Schilderung enthält, trug ich in meiner Manteltasche, als ich an einem Tag im Herbst 1987 am Kölner Hauptbahnhof den Zug verließ. In der damals im Hauptbahnhof noch existierenden Wandelhalle kam mir Peter Handke entgegen. Eine Weile habe ich ihn aus der Entfernung beobachtet – fassungslos über diesen aberwitzigen Zufall, vor allem aber überfordert durch dieses unbegreifliche Zusammentreffen. Was war zu tun? Einerseits fühlte ich mich durch den Zufall dieser Begegnung in hohem Maße gemeint. Andererseits wusste ich nichts Passendes zu sagen. Ich ging dann auf den im langen Mantel durch die Wandelhalle schlendernden Handke zu, und es entspann sich folgender, kurzer Dialog:
Guten Tag, Herr Handke. Ich möchte mich gerne bei Ihnen für Ihre Bücher bedanken.
Handke: Ich habe das Gefühl, ich kenne Sie.
Ich: Ja, ich bin Ihr Leser.
Bis heute kann ich nicht sagen, aus welcher fernen Galaxie mir dieser Satz zugeflogen ist. Aber zugeflogen ist er – denn er kann unmöglich aus dem Innenleben des eingeschüchterten Ichs gekommen sein, das da völlig unvorbereitet dem Helden seiner Jugend gegenüberstand. Seither sind viele Jahre vergangen. Eine zweite zufällige Begegnung mit Handke folgte ein Jahrzehnt später, dann einige Postkarten und Briefe, schließlich eine Reihe geplanter Begegnungen, und seither treffen wir uns regelmäßig in Paris, der Stadt, in der ich seit zwei Jahren lebe und arbeite. – Zum Lesen kam später auch das wissenschaftliche Schreiben. Sollte ich sagen, welches Motiv diese Texte zusammenhält – eine schwierige Aufgabe, der man sich für gewöhnlich nicht stellt – könnte die Antwort sein: Interesse an dem, was unverfügbar ist, ein Staunen über dasjenige, was sich unserem Vermögen entzieht und gerade dadurch die Einbildungskraft in Gang setzt. Daraus wurden eine Dissertation über die Ruine als Emblem der Kunstgeschichte, ein Buch über die besondere Herausforderung, Unsichtbares zu fotografieren, ein Essay über die Fliege als Inkarnation der Störung, ein Buch über das Verlangen, sich ein Bild des Vergangenen zu machen, gerade weil es vergangen und unwiederholbar ist.
Erlauben Sie mir bitte, meinem Dank an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Gestalt eines Traums zum Ausdruck zu bringen. Es ist der Traum vom 13. April dieses Jahres, am Ende des Tages, an dem ich von meiner Aufnahme in die Akademie erfahren habe. In diesem Traum fand die jährliche Akademiesitzung in einer geräumigen Holzlaube im Wald statt. Überhaupt glich das Ganze eher einem heiteren Zeltlager als einem Ort akademischer Rituale. Die Beiträge der Akademiemitglieder wurden in großer Behaglichkeit im Liegen verfolgt, alle waren auf rührende Weise umeinander bemüht. Jemand fragte mich am Beginn des letzten Redebeitrags, ob ich auch alles Nötige habe; in diesem Augenblick war ich in der vertraulichen Atmosphäre aber bereits sanft eingeschlafen. Als ich erwachte, war die Sitzung beendet, der Tagungsort verlassen. Während ich schlief, hatten die anderen Mitglieder den Veranstaltungsort geräumt, behutsam und leise. Jemand hatte auch meine Wanderkleidung vom Vortrag gewaschen, getrocknet und alles sorgfältig zusammengelegt. – Nehmen Sie dieses Traumbild bitte als Dankesbezeugung meines Unterbewussten, dem sich mein Bewusstsein nun aber gerne anschließt. Auch zu vielen von Ihnen kann ich sagen: ich bin ihr Leser. Und die kommenden Jahre mit Ihnen möchte ich nicht, wie in meinem Traum, teilweise schlafend verbringen, sondern mich, sofern das gewünscht ist, für die Belange der Akademie engagieren.