Ilma Rakusa

Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Übersetzerin
Geboren 2.1.1946
Mitglied seit 1995

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Triest. Die Stadt ist in die britisch-amerikanische Zone A und in die jugoslawische Zone B unterteilt. Ich lebe mit meinen Eltern in der Zone A. Beim Baden in Barcola, mit Blick auf das Märchenschloß Miramar, höre ich Italienisch, Englisch, Slowenisch. Die Sprachenvielfalt wird mir so selbstverständlich wie das Geräusch der Brandung. Sie beruhigt, sie ist meine Heimat. Und dort in Triest, hinter den heruntergelassenen Jalousien des rostroten Hauses, wenn das Leben zur Siesta-Zeit zu einem fernen Echo verebbt, entdecke ich – hellwach – die Spiele der Phantasie. Erfinde mir aus Lichthasen die Welt. Werde zur Ritzenlugerin. Ohne jene Jalousien, so weiß ich heute, hätte es kein Schreiben gegeben. Das Stilleben der Zeichen verdankt sich der Camera obscura.
Triest war Glück, Zürich – protestantisch und meerlos – machte Fremdheit bewußt. Da setzte man mich, die ich Schnee nur vom Hörensagen kannte, zum Beispiel auf einen Schlitten und ließ mich einen Hügel hinunterrasen. Der Spaß endete mit einer Schädelfissur. Ich mußte lernen, vieles auf einmal. Ich lernte Deutsch, lernte Ski fahren. Ich beobachtete sehr genau. Ich las unersättlich. Mit zwölf nahm ich heimlich Dostojewskis Verbrechen und Strafe aus dem Bücherschrank. Das Buch erschloß mir eine neue Welt. Von Fürst Myschkin, dem Idioten, konnte ich mich erst recht nicht mehr trennen. Seither lockte der russische Kontinent, groß und rätselhaft. – Daß ich mein erstes Gedicht auf Thomas Manns Grab in Kilchberg schrieb, hatte keine tiefere Bewandtnis. Ich mochte mehr den Ort als den Autor. Und wo genau Joyce lag, dem ich doch von Triest nach Zürich gefolgt war, wußte ich damals noch nicht.
Doch zurück zu den Anfängen. Geboren wurde ich am 2. Januar 1946 im slowakischen Rimavská Sobota, als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen. Die Stationen meiner Kindheit hießen Budapest, Ljubljana, Triest. Im Schulalter kam ich nach Zürich. 1964 machte ich dort Abitur und begann ein Studium der Slawistik und Romanistik. Während eines Auslandsemesters in Paris, 1965-1966, sang ich im russischen Kirchenchor an der Rue Daru und spielte Orgel in Saint-Séverin. In Leningrad dann, 1969, verbrachte ich die Tage recherchierend in der Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek. Unvergeßlich sind jedoch vor allem die Abende: die Küchensessionen bei Borschtsch und Tee, die endlos-intensiven Gespräche mit Freunden, die Ungedrucktes von Pasternak, Zwetajewa, Mandelstam rezitierten, als wäre Dichtung das Wichtigste auf Erden, wichtiger als alle Politik, wichtiger als das tägliche Brot. – 1971 promovierte ich mit einer Arbeit zum »Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur« und trat eine Assistentenstelle am Slawistischen Institut der Universität Zürich an. Weiter als bis zur Lehrbeauftragten habe ich es nicht bringen wollen. Schreiben, Übersetzen hatten – und haben – Vorrang.
Zwei Passionen – nicht im Widerstreit, wohl aber in zeitlicher Konkurrenz, beide abenteuerlich genug als Mittel zur Erkundung diverser Fremdheit. »Was ich auch schreibe«, heißt es in einem frühen Text von Botho Strauss, »es schreibt über mich. Ich schreibe unaufhörlich den Fremden, der mich bedroht«. Ein Gefühl der Differenz hat alle meine Schreibversuche diktiert, als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache. Der Singular ist hier bewußt gesetzt und meint: die Sprache versus Nation, Ethnie (oder was anderer brisanter Zuschreibungen mehr ist), aber auch die Schreibsprache, nämlich Deutsch. Obwohl mehrsprachig aufgewachsen, habe ich mich erst im Deutschen wirklich eingerichtet. Nur im Deutschen verfüge ich über alle Ausdrucksregister, einzig das Deutsche ist Zielsprache meiner Übersetzungen – sei es aus dem Russischen, Serbokroatischen, Französischen oder Ungarischen. Am Deutschen erprobe ich wieder und wieder, wieviel Fremdheit einer Sprache zuzumuten ist, wieviel Verfremdung sie verkraftet. Vor allem der Übersetzungstransfer läßt das Hüben nicht untangiert. Gleichzeitig aber setzt er den Vermittler rauhsten Herausforderungen aus.
Ich schätze mich glücklich, daß ich mir die Herausforderungen selber aussuchen durfte: poetische Prosa von Marina Zwetajewa und Marguerite Duras, von Danilo Kiš und Alexej Remisow. Jedes Buch war eine Gratwanderung, ein kleines Weiterkommen auf dem Weg des sokratischen »Ich weiß, daß ich nichts weiß.« Oder anders, lyrischer formuliert: Der Lebensstrudel hat ein Häufchen Buchstaben hinterlassen. Gemurmel oder reine Phantasie. Auf dem Tisch liegt die Sprache und knistert. Ein Kind der Jalousien.
Ich danke der Akademie für das Vertrauen, das sie mir entgegengebracht hat.