Michael Hamburger

Schriftsteller und Übersetzer
Geboren 22.3.1924
Gestorben 7.6.2007
Mitglied seit 1973

Johann-Heinrich-Voß-Preis

Ja, wenn ich wüßte, wer oder was ich bin! Dann brauchte ich vielleicht gar nicht zu schreiben – jedenfalls keine Gedichte, die im Dunkeln die vergessenen Wege suchen, die ein früheres Ich einmal gegangen sein muß, um an einen schon wieder fraglich gewordenen Ort zu gelangen; auch keine Memoiren, die die Äußerlichkeiten eines Lebens sehr genau und dokumentarisch aufzeichneten, in der Hoffnung, daß sich diese Einzelheiten vielleicht zu einem Ganzen, einer Geschichte ordnen würden. Das konnten sie aber nicht. Es war ja auch nicht meine Geschichte, die mich im Alter von neun Jahren von meiner Geburtsstadt, Berlin, nach Schottland versetzte, dann nach London, nach Oxford, nach unzähligen Orten in Europa und Amerika, als Schüler, als Student, als Soldat, als Französischlehrer in einem Londoner Gefängnis, als Hafenarbeiter in Neapel, als Fremdenführer, als Universitätsdozent und Professor, als lyrischer Handelsreisender, der sich oder seine Gedichte den verschiedensten Zuhörern verkaufte. Schriftsteller war ich dabei wohl ständig, seit dem Alter von 16 Jahren, aber in einem Land, in dem das Schreiben eigentlich nicht als Beruf gilt, in dem es fast lächerlich wirkt, sich als Schriftsteller, geschweige denn als Dichter oder Poet, zu bezeichnen.
Auch auf das Urteil der Anderen kann man sich nicht verlassen. Als ich im Jahre 1950 mein erstes Gedichtbuch veröffentlichte, nannte mich ein Rezensent einen klassischen Lyriker, ein zweiter einen romantischen. So ist es – mutatis mutandis – geblieben. Als dieses Gedichtbuch erschien, hatte ich schon zwei Bücher mit Gedichtübersetzungen – Hölderlin und Baudelaire – veröffentlicht, das erste mit 19 Jahren, mitten im Krieg, als ich gerade Infanteriesoldat geworden war. Noch immer bin ich für die einen an erster Stelle ein Gedichteschreiber, für andere an erster Stelle ein Übersetzer, für wieder andere an erster Stelle ein Essayist und Literaturkritiker. Hunderte von Menschen, die vielleicht nie ein Buch von mir gelesen haben, kennen mich als einen ihrer Lehrer. Auch das Bild, welches man der Öffentlichkeit entnehmen könnte, hat keine Beständigkeit. Ob irgendein Teil meines Werkes überdauern wird, und welcher, wissen die anderen nicht besser als ich.
Ebensowenig kann ich hier ein ideologisches oder politisches Bekenntnis ablegen. Ich weiß nur, daß ich zu jeder Zeit und unter allen Umständen für die Menschen bin, dazu für die Tiere, die Pflanzen und alles, was zur Natur, der menschlichen und nichtmenschlichen, gehört. Sobald eine Ideologie unmenschlich wird – und welche wird es nicht? – bin ich gegen die Ideologie. Daß ich daher für manche ein altmodischer Humanist oder »Scheißliberaler« bin, für manche ein Konservativer – weil ich z.B. für die Konservierung dieser Erde bin – für jene Konservativen, die die Interessen einer Klasse oder einer Macht vertreten, aber ein störendes, revolutionäres Element, halte ich für ganz selbstverständlich und unvermeidbar.
In dem Land, in dem ich nach meiner abgebrochenen Kindheit aufgewachsen bin, gilt es auch als unanständig, in der Öffentlichkeit über sich selbst zu reden. Diese Scheu habe ich aber überwunden, seit ich merkte, daß die Individualität sehr begrenzt ist und man kaum über sich selbst sprechen kann, ohne zugleich auch über andere und für andere zu sprechen. Wenn das nicht so wäre, hätte ich keine Memoiren geschrieben, auch keine Gedichte, in denen ein mehr oder weniger biographisch bestimmbares Ich zu Wort kommt. Eine Trennung der subjektiven Wahrheiten von den objektiven führt zur Ideologie, zur Bürokratie, zur Unmenschlichkeit. Nur darum könnten die Ihnen vorgeführten disjecti membra eines Lebens und Werks doch auf einer für mich unerreichbaren Ebene ein Ganzes ergeben.