Horst Bienek

Schriftsteller
Geboren 7.5.1930
Gestorben 7.12.1990
Mitglied seit 1970

Von seinen Vorfahren wissen wir nur so viel, daß sie aus den Ungewissen Weiten des Ostens gekommen sind, jede Generation wanderte ein Stück weiter zum Westen, der Sonne nach. Auf solche Weise war sein Vater, ein Lokführer, der schon früh pensioniert wurde, in die oberschlesische Grenzstadt Gleiwitz gekommen, an dessen Stadttheater seine Mutter, die Sängerin Valerie Freitag-Piontek, es zu einigen Ehren gebracht hat. Dort wurde er geboren, als das vierte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts begann. Die Kindheit ist eine fluktuierende Erinnerung an große Wälder, Kuckucksrufe, den Übungsplatz des 8. Kavallerie-Regiments vor den Fenstern, die Prozessionen zum Annaberg mit deutschen und polnischen Wallfahrtsliedern, den schmutzigen Fluß, die Bergwerkstraße, den Königsweg nach Przeskläbje, den Güterbahnhof und die Signale der Loks. Eine Kindheit, die von Anfang an in das blaue Licht des Abschieds getaucht war, der dann herannahte mit Panzern und Panjewagen und mit Orgeln, die den Tod pfiffen. Ehe er Kind war, war die Kindheit schon für ihn vorbei.

Und er fand sich wieder in einem andern Land, unter Menschen, die nicht mehr das vertraute harte, verlangsamte Deutsch eines Randgebiets sprachen, sondern das rasche, glatte, elegante des Zentrums. Er fand sich langsam darin zurecht, eroberte sich ein Stück dieser Wirklichkeit, ein Stück dieser neuen Welt, und suchte sich einen Lehrmeister, jenen Mann, dessen Gedichte dieses Jahrhundert gewiß überdauern werden, aber damals sprach keiner von seinen Versen, sondern nur vom kleinen und großen Organon des epischen Theaters – und das lernte er nun. Es war eine Welt, die von oben verändert wurde und die von unten nach Harmonie suchte, so schien es ihm jedenfalls.

Auch er wollte verändern, auf andere Weise, mit Wörtern und mit Sätzen, da sind sie gekommen, an einem Novemberabend im Jahre 1951, haben Ketten um seine Handgelenke geschlossen und ihn weggeschleppt. Die Zelle, das Lager, die Butyrka, Katorga, weiter und noch weiter weg, aus dem Gedächtnis der andern. Ein paar Gedichte von ihm hatte Huchel vorher in seiner Zeitschrift gedruckt – auch das war vergessen, als er nach vier Jahren zurückkehrte in die Gemeinschaft der Lebenden. In der Katorga hatte er gelernt, die russische Sprache zu lieben, die russischen Dichter, Dostojewskij vor allen und Tschechow. Später Sergej Jessenin, den Dandy der Revolution, der sich in einer Neujahrsnacht am Fensterkreuz eines Petrograder Hotels aufhängte. Und die Verfolgten: Isaak Babel, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam.

Er schrieb einiges auf, Gedichte, Erzählungen, den Roman der Zelle; er verstand sich auch darauf, zuzuhören, was die andern sagten und machte das in Werkstattgesprächen bekannt. Ungeduld war in ihm, er begann Neues, probierte andere Formen, andere Medien, und er sah, daß er – trotz aller Verschiedenheit – immer nur das gleiche und das alte gesagt hatte. Er entdeckte sich in den Gesichtern der andern, in vorgefundenen Gesten, in dem, was war und was ist, erkannte sich wieder im Fragment eines Gedichts, in einer präzis-formulierten Prosazeile – oder einfach in der langsam ablaufenden Sequenz eines Films: Il grido.

Bild und Abbild, Wirklichkeit und Phantasie, Idee und Invention, die ökonomischen Ursachen und die ideologischen Verfinsterungen, der Gedanke und seine bildhafte Übersetzung – das war es, was ihn bis in unsere Zeit beschäftigte. Was bleibt, sagt Borges, sind die Worte und die Bilder. Mit ihnen wollte er auskommen. So lebt er dahin.