Werner Spies

Kunsthistoriker
Geboren 1.4.1937
Mitglied seit 1977

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Sie haben mich in Ihren Kreis aufgenommen. Ich möchte mich dafür bedanken. Geboren wurde ich 1937, und dies sei hinzugefügt, da ich mir damit lange Zeit eine gewisse Narrenfreiheit einhandeln konnte, am 1. April. Meine Kindheit verbrachte ich in einer kleinen Stadt, die ein Mitglied dieser Akademie derart eindrucksvoll besungen hat, daß jedem, der dort aufwächst, sein Städtle wie ein Troja und die Wurmlinger Kapelle wie der Olymp erscheinen müssen. So trägt denn auch eine der Neckarbrücken in Rottenburg nun den Namen Josef Eberles. Eine meiner frühesten Erinnerungen verbindet sich mit diesem Mann. Abends, während die Bombenflugzeuge über den Neckar dröhnten, entzogen seine kritischen Sätze dem Kachelofen, um den wir mit ihm zusammensaßen, vollends die Nestwärme. Aus seinem Mund vernahm ich zum erstenmal Widerstand und Namen wie Voltaire, Diderot. Zu den weiteren Stationen gehörte das Bischöfliche Konvikt in Rottweil. Einige übliche Anstrengungen dieses Alters kommentierte mir der Ex-Maulbronner Konviktor Hermann Hesse, bei dem ich den ökumenischen schwäbischen Eskapismus aus gottesfürchtigem Drill bewunderte, lakonisch-heilsam auf einer Postkarte: »Ich sage ja, freundlich grüßend Ihr H. H«.
Die Studienzeit verbrachte ich abwechselnd in Wien, Tübingen und Paris. In Paris blieb ich hängen. Einem ganz exzeptionellen Schwaben begegnete ich dort, der mich auch bald freundschaftlich unter seine Fittiche nahm, mich auf die moderne Kunst hinwies und mir Zugang und Freundschaft zu vielen vermittelte, seien es Picasso, Francis Ponge, Michel Leiris, Raymond Queneau, Michel Butor, Samuel Beckett, Nathalie Sarraute. Ich lernte in Kahnweiler einen Menschen kennen, der mich, der ich zu steter Neugierde ausstaffiert bin, herausforderte. Beneidenswert und unerreicht kam mir dessen Rigorismus vor, der einer Zeit allgemeiner »Überentdeckung« und Einfühlungsbereitschaft seiner Strenge entgegenhielt. Gegen das Hedonistische in der Kunst wetterte er mit Passion. Doch Kahnweiler, der mich die Schriften seines Freundes Carl Einstein lesen hieß, der mich auf Lévy-Strauss, Merleau-Ponty, Marcel Mauss verwies, hatte nichts von der Borniertheit eines Reaktionärs, der über das Leben und über die Konflikte des Schöpferischen ein Fixativ sprüht. In gewisser Weise trug er, sagte ich ihm einmal, in die Pariser Szene den schwäbisch-protestantischen Ikonoklasmus hinein. Die frühe Begegnung mit den Schriften der französischen Aufklärung zog mich zu Diderot hin, zu dessen unerhörtem Unternehmen, die sichtbare, beschreibbare Welt erstmals in allen Verästelungen zu erfassen: Das Schwindelgefühl vor den Tafelbänden der Encyclopédie, in denen durch die Obsession, allem Seienden, Erfahrbaren Namen zu geben, so etwas wie eine materielle Erleuchtung zustandekommt. Und dazu trat die Erfahrung, wie das registrierend-exakte Inventar der Welt auf die Welt selbst ein Höchstmaß an Fremdartigkeit zurückspiegelt. Diese distanzierte, registrierende Formulierung des Seins ließ sich für mich zunächst durchaus mit dem Anspruch der Kubisten verbinden, die Banalität der »Atelier-Ikonographie« durch totales Erfassen über die Banalität hinauszuheben und – hier setzte Kahnweilers sicherlich verführerische Weiterführung des Neukantianismus und vor allem der Thesen Conrad Fiedlers ein – dank einer eigenen Setzung Welt überhaupt sichtbar zu machen oder dem Zerfall des Sehens und des Erkennens zu entziehen. In diese Koordinatensysteme – Diderots großartige Utopie von einer semantisch gleichrangig erfaßten Welt und die kubistische Überzeugung, daß erst eine facettenreiche Darstellung der Gitarre, der Fruchtschale, des Akts das Sehbare sichtbar macht – paßte im Grunde alles, was ich damals in Paris studierte und schrieb. Ganz selbstverständlich erschien mir der Nouveau Roman, für den ich mich einsetzte, als das intellektuell überzeugende Äquivalent einer Magie der Dingwelt. Den Rigorismus Kahnweilers, den ich eher als eine Art Mutprobe auf mich nahm, habe ich in einer entscheidenden Begegnung zunächst über Bord geworfen. Die Freundschaft mit Max Ernst führte mich in Bereiche, die dem, was ich bis dahin zu sehen pflegte, scheinbar widersprachen. Doch fand ich, daß sich hier im Grunde die frühe Faszination für die Aufklärung erst eigentlich auf diese Zeit bezogen darstellen ließ. Denn was in diesem Werk sich ausspricht, ist kein zügelloses expressives unkontrolliertes Kunstmachenmüssen. Was in Max Ernsts stets skeptisch gebrochenen Bildern aufglänzt, steht in der großen Tradition einer kalkulierten Erleuchtung.
Überall stieß ich auf den Orbis Pictus, das Inventar, die erregende Dialektik der Aufklärung, die das neunzehnte Jahrhundert und der Surrealismus betrieben. Deshalb konnte ich meiner Darstellung der Ästhetik Max Ernsts und des Surrealismus auch den Untertitel »Inventar und Widerspruch« geben. Zu seinen Collagen hat Max Ernst wie kein anderer Künstler dieses Jahrhunderts eben die Kenntnis der total erfaßten Welt eingesetzt. Hier bot sich eine Linie an, die ich in ihren weiteren labyrinthischen Verflechtungen herausarbeiten möchte. Die Manipulation, die poetische Befreiung des Inventars aus seiner Situationslosigkeit geschah in diesem Widerspruch gegen eine absolut gleichrangig verfügbare Welt. Und diese Poetisierung war ja eben nicht das Resultat einer dadaistisch gesetzlosen Mischung aller nur irgendwie heterokliten Bilder. Bretons Klage über das »peu de réalité«, die er im Anschluß an sein Eingehen auf den Kubismus ausstieß, des jungen Aragons Suche nach einer profanen Erleuchtung, all dieses Weiterleben des Flaneurs, in dem die spannungslose, nur positivistisch ausgerichtete Seite der Aufklärung verdämmert, zog mich an. Hier wurden plötzlich der absoluten Sichtbarkeit einer Zeit, die die Medien – und Diderots Encyclopédie steht am Beginn dieser Medienflut – ermöglichen, das einzelne Bild, das einzelne Wort entfremdend entgegengesetzt. Aktives und Passives, skeptisches Zerschneiden der Wirklichkeit, Erstellen visionärer Welten, die zwischen dem Überlebensgroßen und Unterlebensgroßen oszillieren, das findet sich im Surrealismus. Alles Zynische und damit Repetitive, aller geistigpsychischer Leerlauf, alle Magie des Nichtstuns, die wir bei Duchamp antreffen, fehlen bei Max Ernst. Hier entstehen Bilder, in denen die Betroffenheit durch das Ekstatische klar, das heißt ohne Verlust der Kontrolle erreicht wird. Ständig bietet er unserem Sehen Bilder an, von denen wir, auch wenn wir sie nie gesehen hatten, ein Vorwissen in uns tragen. Sie liegen sozusagen dem Auge auf der Zunge. Er suchte – wie es ein Blick auf die Entwicklung des Werks zeigen kann –, Bilder zu geben, die man – in Analogie zu Kants Begriff von den »Erweiterungsurteilen« – »Erweiterungsbilder« nennen wollte. Ich habe mich, darauf wollte ich hinweisen, mehr und mehr auf die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts geworfen, auf ein zwanzigstes Jahrhundert, das mir dort, wo es in seinen Spekulationen über das pure Zeitgefühl hinausreicht, erst existiert. Nur auf diese Weise, glaube ich, kann man der gefährlichen Verharmlosung der Kunst entgehen. Seit zwei Jahren habe ich einen Lehrstuhl – nun eben für die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Meine biographischen Daten schmiegen sich dem Auftrag so geschickt an, daß ich mit der Jahrtausendwende rechtzeitig in Pension gehen kann.