Ulf Stolterfoht

Lyriker
Geboren 8.6.1963
Mitglied seit 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder der Akademie,


muskat: vor einnahme gesamtnuß bring deine lyrik zum
abschluß. dann such es dir aus: kollaps oder lethargie.
sink auf die knie, bete. bei kleineren mengen, pulverisiert,
hält das gefühl von schwebegang volle vierzehn stunden an.
schlug alle in seinen bann – und die meisten schrieben ja
wirklich gedichte. es war seltsam, ende der siebziger in

einem viertel wie heslach: für junge, weiße schulverweigerer
blieben allein lyrik und improvisierte musik, um dem ghetto
zu entkommen. viele schafften das ohne chemische hilfe nicht,
und für die war muskat wie geschaffen: amphetaminartig
putschend, leicht bewußtseinsverändernd und vergleichsweise
billig – da blieb man für tage am tisch. doch das geschriebne

überstieg bei weitem das können. oft ließ das scheinbar mühe-
los erreichte niveau den schaffer sprachlos zurück: er verstand
die eigne lyrik nicht. sie schien ihm schwierig und überkomplex.
die meisten machten unbeeindruckt weiter, verschwiegen ihr
scheitern und erhöhten einfach die dosis, was die probleme
auf natürlichem wege löste. andere gewannen einsicht und

verfaßten bezüglich berichte – auch das lief sich tot, ist teil
der aporie-geschichte – wieder andere, ganz bestimmt nicht
die dümmsten, verschwanden für einige zeit und kehrten mit
den insignien zurück. für ihre dichtung ein glück, für ihre seele
verheerend. alles in allem hat heslach bis heute acht vorzüg-
liche dichter erbracht. über zwölf weiteren wölbt sich die nacht.

– also noch einmal:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Akademie,
wenn es schon peinlich ist, sich vorstellen, also über die eigene Person sprechen zu müssen, dann ist es wahrscheinlich der Gipfel der Peinlichkeit, dies auch noch mit einem eigenen Text zu tun. Jetzt ist es allerdings geschehen, und ich möchte zumindest versuchen, Ihnen zu erklären, warum es geschehen ist.
Die eigene Biographie ist, nicht erst seit Peter Weiss, wohl immer eine Wunschbiographie, auch und gerade dann, wenn man sich bemüht, bei den Tatsachen, womöglich sogar den nackten, zu bleiben. Denn wenn ich Ihnen erzählte, was ich nun ja tatsächlich tue, daß mein Großvater mütterlicherseits einer niederbayerischen Brauerdynastie entstammte – während seine vier Brüder ihrerseits Brauereien übernahmen, reichte es bei ihm allerdings nur zum Hals-Nasen-Ohrenarzt –, mein anderer Großvater seinerseits einer Schokoladenfabrik vorstand, und es seine Frau bis zur nordböhmischen Meisterin im Tischtennis-Mixed brachte (das scheint es tatsächlich gegeben zu haben!), während die andere Großmutter, ein besseres Mädchen aus Berlin-Südende, zeitlebens unter dem rüpelhaften Benehmen ihres HNO-Brauer-Gatten litt und jede Pflanze beim lateinischen Namen kannte – wenn ich Ihnen das alles also erzähle, und weiter erzähle von Persilscheinen und Vertreibung, vom Bücherschrank, in dem sich Hans Grimm an Mary McCarthy schmiegte, und natürlich von den genau null Gainsboroughs an der Wand – dann bin ich meiner biographischen Konstruktion fast selbst schon auf den Leim gegangen.
»Von nichts kommt nichts« ist ein Satz, den ich vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal im intendierten Sinn verstanden habe. Bis dahin schien er mir das glatte Gegenteil zu behaupten: daß es nämlich für gar nichts einen Grund oder eine Ursache gebe, daß sich von Kausalität nur in einem einzigen Fall sinnvoll sprechen ließe, und zwar in jenem, in dem aus einem Nichts ein anderes Nichts erwächst – was sich mit meinen eigenen Erfahrungen mühelos zur Deckung bringen ließ. Und läßt.
Wenn es nun aber den gewesenen Stuttgarter Schulverweigerer vom Heslacher Ghetto emporgespült hat in die Hallen der Darmstädter Akademie, dann haben sich dadurch auch die Referenzsätze verschoben, und es kommt mir nun angemessener vor, mit Nenas »Daß sowas von sowas kommt« meine Überraschung zu bekunden und Ihnen zu sagen, daß ich mich über die Zuwahl zur Akademie unheimlich freue. Und Ihnen herzlich zu danken dafür: Dankeschön!