Peter Härtling

Schriftsteller
Geboren 13.11.1933
Gestorben 10.7.2017
Mitglied seit 1982

Wie soll ich mich Ihnen vorstellen, Ihnen dafür danken, daß Sie mich in Ihren Kreis aufnehmen? Soll ich Sie mit Daten traktieren, soll ich Bücher nennen? Ich ziehe es vor, bei Ihnen anzufangen, indem ich von einem Anfang erzähle. Von dem Gedicht, das mein erstes Gedichtbändchen einleitet.
Es war 1950. Ich war siebzehn. Meine Eltern lebten nicht mehr, ich wuchs mit meiner Schwester bei meiner Großmutter und einer Tante auf. Oft lief ich davon, auf die Hügel rund um Nürtingen, redete mit mir selbst und tröstete mich mit Gedichten, die ich gelesen hatte und die ich brauchte wie Brot, wie Atemluft. Daß sie mir so vertraut waren, ich mit ihnen umging, als gehörten sie mir allein, verdankte ich zwei ungleich älteren Freunden, die mich aufgefangen, die mich väterlich in ihre Hut genommen hatten: Meinem Deutschlehrer am Gymnasium, Erich Rall, und dem Maler und Bildhauer Fritz Ruoff.
Ich ging nur widerwillig zur Schule, rieb mich an den verbrauchten und rückständigen didaktischen Ansichten vieler Lehrer, begehrte auf, wurde gestraft und freute mich dennoch auf die Deutschstunden, in denen Rall mitunter, gegen den Lehrplan, uns von jenen Dichtern erzählte, die vertrieben worden waren oder die er zu den Sternen seiner Jugend zählte. Überkam es ihn, las er Gedichte von ihnen vor, gab mir Rätsel auf und Zeilen mit, die mir noch nach Tagen die Tränen in die Augen trieben. So lernte ich sie kennen: Georg Trakl und Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Max Herrmann-Neisse, Rainer Maria Rilke und Bertolt Brecht. Ihre Bücher fand ich in Ruoffs Atelier, ließ mir von ihm, den die Nazis für Wochen nach Rottenburg ins Zuchthaus verschleppt hatten, die Hintergründe schildern, wehrte mich gegen seine Ruhe und Versöhnlichkeit. Ich wollte zornig sein mit den Dichtern und ängstigte mich mit ihnen vor einem Leben, das undeutlich vor mir lag, gesäumt von den Leitsprüchen der Erwachsenen.
Ein halbes Jahr vor dem Abitur verließ ich die Schule. Erich Rall, mein geduldiger Fürsprech, war krank geworden; ich fühlte mich ohne Schutz und hielt Zurechtweisungen, Hohn und gelegentliche Prügel nicht länger aus. Was soll aus dir werden? fragte Großmutter, und ihr Gram trieb mich um. Ich arbeitete in einer Fabrik, berichtete für die lokale Zeitung über Vorträge im Volksbildungswerk, trat selber auf als Apologet Wolfgang Borcherts, schlüpfte in Rollen und vergaß sie wieder. Ich hatte längst zu schreiben begonnen. Es waren kindliche Antworten auf die großen Sätze, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatten. Fritz Ruoff ermutigte mich, blieb, auch wenn ich fortrannte, neben mir, hielt geduldig Schritt und wachte über meine schrille Unvernunft. Er las meine Gedichte und erwiderte ihnen mit Zuspruch und Hinweisen auf Bücher.
Es gelang mir, den Chefredakteur der Nürtinger Zeitung zu bewegen, mich als Volontär in die Redaktion aufzunehmen. Die enge Redaktionsstube wurde zu meinem zweiten Zuhause. Nachts, nachdem ich Artikel über Vereinsfeste, Kleintierschauen und Vorträge geschrieben hatte, vergaß ich meine Tätigkeit, verwandelte mich und in einer jener Nächte entstand auch das erste Gedicht, das meine Stimme annahm, von dem ich ahnte, daß es ein Anfang sein könnte und mit dem ich, Don Quichotte als Schutzgeist rufend, endlich von mir absah und nach dem andern suchte, dem Mitstreiter, dem Weggefährten. Ich widmete die drei Strophen, die einen Zyklus von sechs Gedichten eröffneten, meiner damaligen Liebsten. Sie ist heute meine Frau.

vielleicht ein narr wie ich
narren sind immer gleich
und wunderlich
und immer reich

warst es auch du
ein flugzeug macht mich ganz verrückt
doch du hältst deinen speer gezückt
und stößt hart zu

ich möchte dich bruder nennen
sehr feierlich und sehr zart
doch du wirst meine Stimmung nicht kennen
du fühlst dich sicher genarrt

Fritz Ruoff verstand diesen fragenden, trotz seines Mißtrauens drängenden Zuruf, spornte mich an und riet mir schließlich, das Bündel Gedichte, das in kurzer Frist entstand, an den Bechtle Verlag zu schicken. Vielleicht ein Narr wie ich? Es war, als ob diese Bubenfrage Türen öffnete. Kurt Leonhard, damals Lektor bei Bechtle in Esslingen, antwortete postwendend, lud mich ein. Die Gedichte erschienen, 1953, als Manuskript gedruckt und mit Zeichnungen von Ruoff. Doch noch mit den Korrekturfahnen ging ich auf Reisen. Vielleicht ein Narr wie ich? Eine Woche lang hielt ich mich in Grieshabers Bernsteinschule auf, hörte Ludwig Greve und Max Fürst zu, deren Wissen und Weisheit mich ebenso mitnahmen wie ihre Erzählungen aus dem Exil. Nun saßen zwei Zeugen vor mir. Ich möchte dich Bruder nennen, sehr feierlich und sehr zart. Nein, dazu war ich noch nicht fähig. Die Poesie verbündete sich noch nicht mit der Wirklichkeit. Aber es konnte nicht mehr lange dauern. Leonhard hatte mir das Manuskript eines Bandes zu lesen gegeben, der demnächst bei Bechtle erscheinen sollte. Gedichte von Helmut Heißenbüttel, mit dem Titel Kombinationen. Ich las Satz für Satz als Botschaft und wagte, Heißenbüttel nach Hamburg zu schreiben. Er lud mich ein mit einer Karte, auf der nur ein Satz stand: Bitte, kommen Sie. Ohne meinen Besuch anzukündigen, fuhr ich hin, überraschte ihn. Er nahm mich auf. Vierzehn Tage lang ertrug er meine Naivität, meine Renitenz. Ich lernte und lernte. Wieder daheim, schrieb ich ihm gleich. Wir wechselten beinahe täglich Briefe. Er ging streng mit den Gedichten um, die ich nun schrieb. Er half mir weiter. Als die Kombinationen erschienen, schickte er sie mir mit der Widmung, einem Wort von Henri Michaux: »La tristesse rembourse« – Depression zahlt sich aus. Schreibend fing ich an zu leben.