Jan Aler

Philosoph und Literaturwissenschaftler
Geboren 13.7.1910
Gestorben 30.6.1992
Mitglied seit 1965

Herr Präsident, hochverehrte Versammlung, meine Damen und Herren! Vor allen Dingen möchte ich Ihnen meinen warmen Dank für die Aufnahme in die Deutsche Akademie aussprechen. Ich empfinde diese Zuwahl nicht nur als eine unverdiente Auszeichnung, sondern auch als ein sehr großes Vorrecht. Denn das ist doch wohl die einzig richtige Bezeichnung für die Tatsache, daß Sie einen Ihrer vielen, vielen getreuen Leser in diese Dichterakademie aufgenommen haben. Dafür bin ich Ihnen dankbar.

»Mag traum und ferne uns als speise stärken –
Luft die wir atmen bringt nur der Lebendige.«

Nicht ohne Bewegung sieht der Germanist, der vor Ihnen steht, mehrere Autoren hier versammelt, mit deren Schriften er sich im Laufe der Jahre aus innerer Neigung näher vertraut machte, um ihre Wirkung auf ihn auch weiteren Kreisen in seiner Heimat zu vermitteln. Gerne schließt er sich der hübschen Gepflogenheit an, durch eine kurze Mitteilung aus seiner bloßen Anwesenheit zur geselligen Begegnung zu gelangen.
Nun, ich wurde keineswegs als künftiger Germanist aus der Taufe gehoben: 1910 besorgte sie in Amsterdam, in der wallonischen Kirche, monsieur le pasteur Pouget. Väterlicherseits entstamme ich nämlich einer Familie von Réfugiés. Aler reimte sich damals noch mit »flair« (ach, lang’, lang’ ist’s her), und die Familie pflegte um so kräftiger die Tradition ihres Herkommens, als mein Vater sich Anfang der neunziger Jahre vorübergehend mit Frau und Kind in Paris niedergelassen hatte. Er unterhielt freilich freundschaftliche Beziehungen auch mit Mitteleuropa, und die hübsche vierbändige Heine-Ausgabe – das erste Büchergeschenk, das seine kluge Braut ihm verehrte – steht in meiner Bibliothek noch immer an einem Ehrenplatz. Von frühester Jugend an trommelte mir denn auch Le Grand energisch das Ça ira vor! Aber es war eben doch das Ça ira. – So kam es, daß für uns Amsterdam im Grunde zur nördlichen Banlieue gehörte, und mich schickte man also nach dem Abitur nach Paris, um mich dort zum Kaufmann auszubilden, was allerdings auf Um- und Abwege bald ins Quartier Latin führte.
Aber ich greife vor, wir stehen noch am Becken, wo Pastor Pouget mich auf einen sonoren Dreiklang tauft. Schön wie er ist, hat er mir dennoch in der Jugend nur Verlegenheit bereitet. Denn er stimmte irgendwie gar nicht. Jean Matthieu Marie: so heißt kein Protestant und schon gar kein Hugenotte; der kultiviert bekanntlich bei der Namensgebung gerade das Alttestamentlich-Heldenhafte. Sooft irgendeine administrative Maßnahme mich dazu zwang, ihn in pleno, vollständig und lauthals auszusprechen, war er den robusteren Klassenkameraden ein Ärgernis. Für den Rest des Tages nahmen sie deshalb ihre süße Rache an mir, indem sie die Reihenfolge umdrehten und mich mit dem dritten Namen riefen, der einigen nicht einmal, weiß Gott, so schlecht zu meiner wehrlosen Versponnenheit zu passen schien.
Es war aber nichts zu machen, ich sollte nun einmal den Namen meines Großvaters mütterlicherseits weiterführen. Er wurde eigens dazu übersetzt, und zwar aus dem Italienischen. Denn der Großvater gehörte einem Geschlecht von Hirten und Weinbauern an, seit Jahrhunderten am Lukmanier ansässig. Dort, wo der Monte Sosto über die Val Blenio wacht, verließ zur Zeit Napoleons der Urahn die Casa Giroldi in Ponte Aquilesco und zog gen Norden. Im fernen Unterland hatte bereits sein Sohn sich in zweiter Ehe völlig assimiliert. Aber die Aura der abenteuerlichen Herkunft aus dem wilden Hochgebirge blieb seinen Nachkommen erhalten. Wie gerne erging sich am Kamin die familiäre Legende im Bericht von seiner langen Wanderung mit Murmeltier und Gipsfigur.
Sind nun diese Elemente nicht aus dem Komplex, den sie ja geradezu beherrschen, zu trennen, so erhebt sich nachgerade die bange Frage: Was wäre an dem ganzen Wicht / Germanisch noch zu nennen? Offen gestanden, der eigentümliche Widerspruch zwischen Herkunft und Laufbahn hat mich, als sich im dunklen Drang der Jugend die Berufswahl vorbereitete, niemals beunruhigt. Ich war einfach, mit Leibniz zu reden, von einem je-ne-sais-quoi der deutschen Sprachkunst wie hingerissen. Mit ihrem Singen hatte diese Lorelei es mir angetan, und nichts hat seitdem ihren Bann je brechen können.
Es war dabei wesentlich von Bedeutung, daß ich bereits in sehr frühen Jahren meinen beiden Deutschlehrern – es waren zwei eminente Kenner – einen nachhaltigen Eindruck von Goethes Schaffen verdanken durfte. Leise schlich zuerst seine Lyrik sich mir ins Herz. Aber sie machte es nicht schwer. Vielmehr belebte sie es, bald gemeinsam mit einigen Bühnen- und Erzählwerken, wie ein geheimnisvolles Elixier. Diese zarte Humanität ergriff mich unbedenklich, lange bevor ich es wagte, ihrer seelenvollen Dialektik in kleinen Einzelstudien sowie in einer größeren Darstellung gegen den Hintergrund von Goethes Zeitalter nachzuspüren.
Nun kam aber noch hinzu, daß es mich in jugendlichem Übermut mächtig zur Philosophie zog. Abgesehen jedoch von dem einzigen Bergson, beherrschten Ende der zwanziger Jahre lauter deutsche Denker mühelos das Feld. So kam es, daß ich mich nach kurzem Schwanken für Germanistik und Philosophie entschied, ohne freilich je auf das angestammte Erbe zu verzichten. Da setzte das lebenslängliche Pendeln zwischen den Disziplinen ein, von der ersten Arbeit über Kants Definition des Transzendentalen bis zur hoffentlich nur vorläufig letzten Goethestudie, meiner Leidener Abschiedsvorlesung. Dreimal kam mir zwar die Versuchung, kurzerhand umzusatteln: 1933, 1940, 1945. Aber die sanfte Gewalt der deutschen Dichtung hat es jedesmal verhindert. Wohl am tiefsten habe ich das im Hungerwinter 1944/45 erfahren. Allabendlich versammelten wir uns mit unseren jüdischen Gästen im Wohnzimmer und lasen einander beim recht unzuverlässigen Scheine einer kleinen Talgkerze unsere Dichter vor. Während aus der geschändeten und verödeten Altstadt die drohende Stille der Sperrstunde unheimlich in unsere Gesprächspausen fiel, lasen wir auch einige Abende mit verteilten Rollen den Tod des Empedokles. In solchen Stunden erkannten wir es alle, wie notwendig es sei, daß nach der Befreiung die Stimme der deutschen Klassik endlich im europäischen Chor wiederum rein ertönen sollte. Zu ihr habe ich mich auch später in meiner Antrittsvorlesung bekannt, und aus der Ferne, verehrte Versammlung, habe ich es oft dankbar begrüßt, wie Sie das dichterische Erbe deutscher Humanität großzügig pflegen und es selber, in einer zeitgemäßen, und d. h. militanteren Art, auch zu bereichern wissen.
Aus solchen Prämissen ergab sich wie zwangsläufig eine Literaturbetrachtung, die gleichsam ein Kondominium von Dichtungswissenschaft und Philosophie bildet. Der Wahrheitsgehalt der dichterischen Aussage, die Art und Weise, wie sie ihn uns vermittelt, der spezifische Zusammenhang zwischen künstlerischem Gepräge und weltanschaulicher Substanz: diesen Dingen bin ich seit der Doktorarbeit immer wieder nachgegangen.
Andererseits hat die Stoffwahl unwillkürlich zum Ausgleich zwischen Herkunft und Wirkungskreis geführt. Atavismen bildeten auf meinem Schreibtisch nachgerade eine Germania Romana, von Gottfried von Straßburg bis etwa Gottfried Benn, und ihr Kernstück ist die George-Interpretation. Hier besitzen diese Meister – bald durch ihre Abstammung, bald durch produktive Aneignung – Bürgerrechte. Darin begegnet sich mit ihnen die aufgeweckte Kommilitonin, die seit einem Vierteljahrhundert bei meiner Arbeit darüber wacht, daß ihr ein gewisser Stich ins Musische erhalten bleibt.
An Stefan George fesselte mich aber von jeher auch der eigenwillige Versuch, den Mythos zu erneuern. Solche Bestrebungen habe ich später in einem weiteren Rahmen untersucht, zuerst in der Lyrik, dann auch in der Erzählkunst, von Carl Spitteler bis Hermann Broch und Hermann Kasack und Elisabeth Langgässer. Auch der Poeta laureatus von heute* wurde dabei keineswegs übergangen: Der faszinierenden Dämonie seines miserablen Trommlers – den man, des heineschen Helden eingedenk, nach Statur und Genealogie getrost als Monsieur Le Petit bezeichnen darf – widmete ich 1962 eine Betrachtung.
Bei aller Freude am künstlerischen Phänomen ging es mir bei diesem Thema doch auch stets um eine weitergreifende Frage, welche Bedeutung nämlich der Versuch, den Mythos im Dienste abendländischer Humanität zu erneuern, in unserem Zeitalter besitzt. Mit diesem Komplex möchte ich mich auch in nächster Zukunft noch beschäftigen. Wenn man von Atavismen spricht, so spukt hier wohl durch meine bürgerliche Aufgeklärtheit das uralte Brauchtum jener verzauberten Alpentäler, von dem mich nur zwei Generationen trennen.
Mit diesen und ähnlichen Überlegungen wende ich mich seit kurzem allgemeineren Fragen der Kunst und des Geisteslebens zu. Dabei bleibt indessen deutsches Schrifttum nach wie vor Ausgangspunkt und Nährboden für allgemeinere Betrachtungen. Wie eine Probe aufs Exempel empfinde ich es, daß ein kleines Barockgedicht mir nicht aus dem Sinn kommt, wenn ich mir dieses Verhältnis vergegenwärtige. Alle paar Jahre erheitert es mit seiner rührenden Skurrilität meinen Studenten eine Vorlesungsstunde. Dem jungen Christian Weise kamen seine Verslein wie »Überflüssige Gedanken« vor. Mir aber sind sie heute geradezu unentbehrlich, meiner Gesinnung bündigsten Ausdruck zu verleihen. Hören Sie seinen Sechszeiler:

»Die Mädgen sind wie Post-Papyr
Subtil und zart im Lieben,
Denn wer in ihre Zier
Sich nur zuerst hat eingeschrieben
Der stehet obenan
Da man die Schrifft wohl lesen kann.«

Dort soll auch Ihre Schrifft immer auf meinem Post-Papyr stehen, chers maîtres, dort: ganz obenan!