Claudia Schmölders

Kulturwissenschaftlerin
Geboren 25.10.1944
Mitglied seit 2010

Im Herbst 1944 trug meine Mutter, als wahrhafte Urheberin, mich von Breslau nach Heidelberg in die Kinderklinik, um mich dort in die Welt zu entlassen. Die Familie fand sich zusammen; 1947 zogen Vater, Mutter und drei Kinder weiter nach Köln, wie so viele Flüchtlinge aus dem Osten, und die Stadt hat mich dann sozialisiert mit allem, was bis heute zu Köln gehört: Trümmer, Karneval, Westdeutscher Rundfunk.

100 Jahre Familienwanderung endeten so, denn in Köln hatte schon der westfälische Urahn August Schmölders studiert, ab 1844 Orientalist in Breslau, Fachmann für den persischen Al Ghazzali und die arabische Philosophie, der er allerdings wenig Chancen gab. Dem Breslauer Urahn folgte zunächst ein Juristensohn, später ein Enkel mit Vorliebe für die Ökonomie, mein Vater – aber was sollten Töchter im 20. Jahrhundert werden? Die Väter erarbeiten Basiswissen, die Kinder luxurieren. Es wurde also Germanistik und Philosophie studiert, ab Winter 1965 im damaligen Mekka Zürich, bei Emil Staiger, Karl Löwith und vor allem Helmuth Plessner.

Zürich wurde für 14 Jahre meine intellektuelle Heimat. Mit einer energischen Unterbrechung: 1967, im Sommer, ging ich pünktlich zum Zeitgeist nach Berlin, erlebte dort alles, was zu »68« gehört, und beendete 1970 das Studium. 1971 – inzwischen mit einem Neurologen verheiratet – ging es ein Jahr nach New York, dann wieder zurück nach Zürich, bis 1982.

Bis 1982: Das heißt, ich habe die Nachwirkungen, Entgleisungen, Radikalisierungen der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik nicht wirklich erlebt, nur die etwas sanfteren eidgenössischen Äquivalente, wie den Literaturstreit um Staiger im Winter 1966. Und erschrocken von der brutalen Dialogik an der Freien Universität – Stichwort Trümmer – schrieb ich 1979 mein erstes Buch über Die Kunst des Gesprächs (Stichwort Radio, jedenfalls Brechts Theorie dazu). Unvergesslich daneben die Lehrjahre im Zürcher Diogenes Verlag, einer Oase der Weltläufigkeit und des Humors – Stichwort Karneval –, mit Daniel Keel und Rudolf Bettschart als großzügigstem Verlegerpaar.

Kurz und gut: Seither bin ich verschweizert, und das will auch sagen, gebannt vom Spagat zwischen einer kosmopolitischen Groß- und einer phantasie-bewimmelten Kleinwelt. Paul Parin und Fritz Morgenthaler, die Erfinder der Ethnopsychoanalyse neben Robert Walser, dessen Werkausgabe damals wuchs, Urs Widmer und Dürrenmatt neben dem unvergesslich aufsässigen Harald Nägeli als Hausheilige, waren mein Material für mentale Mutationen. Nicht biologisch, sondern orientierungsweise. Denn wir wissen ja selten, wo wir im Leben stehen, aber das Leben weiß immer Bescheid. Also ließ mich das Leben im Sommer 1966 ein Kinderbuch übersetzen, zweifellos im Vorgriff auf die Mitgliedschaft in einer Akademie. Wo die wilden Kerle wohnen, diese märchenhafte Queste des migrationshintergründigen Amerikaners Maurice Sendak hat mich auf eine Spur gesetzt, die ich dann jahrelang verfolgt habe; inspiriert vom Zürcher Märchenforscher Max Lüthi und im Dienst der Märchen der Weltliteratur des Verlags Eugen Diederichs.

Verschweizert hat mich aber noch mehr und wirklich geheimnisvoll Peter von Matt. Von ihm las ich 1983 die Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, und ihm danke ich die lebenslange Neugier auf diese visuelle Urschweiz namens Physiognomik. Seit der Einladung ins Berliner Wissenschaftskolleg 1991 wandere ich in diesem Wissensgebirge einer Ideengeschichte herum, seit 1998 habilitiert im Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt Universität.

Dabei ist Physiognomik natürlich gar keine Wissenschaft. Kant hat sie eine »Geschicklichkeit« genannt; Lichtenberg meinte: »Wir urteilen stündlich und wir irren stündlich«. Wahr ist: Kein Experiment kann die unbeschreibliche Komplexität simulieren, die ein berühmter Anonymus vor 2004 Jahren immerhin umrissen hat: »aus der Bewegung zieht man in der Physiognomik Schlüsse und aus der Haltung, aus der Farbe, aus dem Gesichtsausdruck, aus dem Haar, aus der Glätte der Haut, aus der Stimme, aus dem Fleisch, aus den Körperteilen und aus der Gestalt des ganzen Körpers.«

Märchen und Körperdeutung mögen eine schmale Berechtigung für die Aufnahme in eine Akademie für Sprache und Dichtung sein. Die Wahrheit ist: Nur die Dichtung, nur die Schriftsteller sind wirklich gute Physiognomiker. Man denke an Kafkas Tagebücher, an die unerhört raffinierten physiognomischen Beobachtungen darin, und lese anschließend seine märchenhaften Dichtungen, die nahezu keine Gesichtsprosa mehr kennen, stattdessen aber etwa Käfer. Was geschah zwischendurch? Und was ist mit Tolstois ausufernden Körperdialekten, was mit dem Fürsten Myschkin, der nach 25 Jahren Aufenthalt in der Schweiz als Physiognomiker nach Russland zurückkehrt? Was ist mit Proust, was mit Oscar Wilde?

Berge haben auch Höhlen, Gebirge erst recht. Über die großen Autoren gelangt man in Urhöhlen geschöpflichen Imaginierens, daran die Kulturwissenschaft immer nur lernen kann.

Ich danke Ihnen sehr für die Aufnahme in die Akademie.