Olga Martynova

Schriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin
Geboren 16.2.1962
Mitglied seit 2019

Als im Spätherbst 1990 Oleg Jurjew und ich, beide russische Autoren, er 31, ich 28, im dunklen, nassen, vom Regen glänzenden und mit noch blühenden Rosensträuchern überraschenden Berlin ankamen, konnten wir auf Deutsch nicht wesentlich mehr sagen als „Danke“, „Bitte“, „Hände hoch“ und „Ding an sich“. Wir wussten nicht, dass diese Sprache zu unserem Zuhause werden würde. Denn Heimat und Zuhause sind nicht unbedingt dasselbe. Die Heimat bleibt die russische Sprache und die Erfahrung von knapp einem Jahrzehnt des Lebens als inoffizielle Dichter in Leningrad ohne Hoffnung auf Veröffentlichungen. Das unvermutete Ende der Sowjetunion eröffnete nicht nur Möglichkeiten zu publizieren, sondern öffnete auch die Grenze nach außen. Wir passierten diese Grenze. Draußen nahm uns die „Hände hoch“-und-„Ding an sich“-Sprache in Empfang.

Als wir mit einer Handvoll weiterer Wörter Bekanntschaft geschlossen hatten, fingen wir an, deutsche Bücher, die wir bereits in russischer Übersetzung gekannt hatten, auf Deutsch zu lesen. Die Übersetzungen waren übrigens oft großartig, etwa von Solomon Apt, der Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war und dem wir z. B. die russischen Kafka, Musil und Canetti verdanken. Sie im Original zu lesen, war wie in einer Gemäldegalerie vor einem Bild zu stehen, das dir seit Jahrzehnten als Reproduktion vertraut ist. Nach und nach gesellten sich neue deutsche Texte dazu, und ab und zu deren Verfasser.

Im Laufe der folgenden Jahre hat es sich so ergeben, dass ich etwas mehr im Zuhause der deutschen Sprache verweilte und Oleg Jurjew mehr in der Heimat der russischen. In unserem gemeinsamen Raum waren allerdings beide Sprachen und beide Literaturen zugleich da. Beide Sprachen bleiben unser gemeinsamer Raum, auch nach Oleg Jurjews Tod im Jahr 2018. Tradition ist eine Gemeinschaft von Toten und Lebenden, und ein Blick nach vorne ist ohne Rückspiegel unvollständig und eingeschränkt, deshalb auch gefährlich. Vielleicht ist Kunst das einzig verlässliche Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich kann mich Ihnen als jemand vorstellen, der versucht, in vier Richtungen zugleich zu sehen: zeitlich: nach vorne und zurück. Räumlich: ins Russische und ins Deutsche.

Das Schicksal wollte, dass meine Heimat und mein Zuhause ein langes, enges und schwieriges Verhältnis zueinander haben. Die fast verwandtschaftliche Verbindung der russischen Kultur zur deutschen entwickelte und entwickelt sich parallel zu geschichtlichen Katastrophen, so werden diese kulturellen Bande zuweilen zu einer Hängebrücke über einem Abgrund. Mein Vater, der als Kind Deutsch gelernt hat und mit Goethe, Heine, Hölderlin und Beethoven aufgewachsen ist, musste gleich nach der Schule in den Krieg ziehen. Sein jüngerer Bruder wurde bei einer Razzia von den Deutschen massakriert. Die Liebe meines Vaters zur deutschen Kultur blieb, aber das war eine verletzte Liebe. Beide Länder haben eine schwere geschichtliche Last. Über die deutsche Last sprach zum Beispiel Jean Améry in seiner Vorstellungsrede bei der Aufnahme in die Akademie. Über die russische sprach aus dem gleichen Anlass mein Petersburger Landsmann, der Germanist Konstantin Asadowski. Das ist richtig so: Jeder spricht von seinen eigenen Dämonen. Aber ich bin in gewissem Sinne eine Amphibie: Beiderlei Dämonen sind meine. Wenn man es mit dem Leben in einer Kultur und mit der Liebe zu ihr ernst meint, eignet man sich nicht nur das Schöne, sondern auch das Hässliche an. Andernfalls ist das keine Liebe, nur eine unverbindliche Affäre.

Seit dreißig Jahren betreibe ich kulturelle Aneignung auf dem Gebiet der deutschen Sprache und Dichtung. Meine Beute bislang: im Schreiben: drei Romane, viele Essays, in letzter Zeit Gedichte, denn nach Oleg Jurjews Tod habe ich aufgehört, Gedichte auf Russisch zu schreiben. Im Lesen: Bücher, die mich so geprägt haben, dass ich ohne sie ein völlig anderer Mensch wäre. Im Leben: Gewinn an geschätzten Kollegen, von denen viele zu guten Freunden geworden sind. Zur Beute gehört auch die große Ehre und Freude, in die Akademie aufgenommen zu sein. Ich weiß, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, und doch fühle ich mich damit an einem Ort angekommen, wo ich hingehöre. Ich bedanke mich bei Ihnen sehr herzlich dafür.