Ernst Meister

Lyriker
Geboren 3.9.1911
Gestorben 15.6.1979
Mitglied seit 1974

Georg-Büchner-Preis

Meine Damen und Herren,

den abstrakten Fall, daß der Mensch an jedem Orte der Erde geboren werden könnte, gibt es nicht. Das setzte Präexistenz voraus mit der Möglichkeit der Wahl. Was also mich betrifft: Ich kam, gemäß den Prämissen eines jungen Paares, 1911 (Wilhelminische Endphase) im westfälischen Haspe zur Welt, einem völlig ruhm- und legendelosen Gemeinwesen bei Hagen. Heute ist der an der Ennepe gelegene Industrieort Teil dieser großen Stadt. Ennepe – das ist freilich etwas: Eines Tages nämlich mußte ich beim Klang des Namens an einen gewissen altgriechischen Imperativ denken.

Daß es Humanisten oder wenigstens einen in der Familie gegeben hat, halte ich nicht für wahrscheinlich. Meine Vorfahren sind hauptsächlich Handwerker und Bauern gewesen, die teils im Sauerland, das manche zum »herzynischen Walde« zählen, teils am Rande des heutigen Ruhrgebietes lebten. Von einem Postillion weiß ich auch, und gern möchte ich für meine Sippe einheimsen: »und dort drüben, in Westfalen, Mein ehrlich Meister«. (Siehe Hölderlins Gedicht »Der Vatikan«.)

Sicher war man von meines Vaters Seite in den letzten Generationen »pietistisch«. Mein Großvater ist für mich das Modell eines Frommen. Ganz bestimmt hat er nie die Odyssee gelesen, die Bibel hingegen bedeutete ihm alles. Er war ein kleiner Mann mit gekrümmtem Rücken und großem Kopf (Rachitis in einer schweren Jugend), Dreher von Beruf, ein Melancholiker, der gleichwohl den religiösen Disput liebte. An Feiertagen trug er einen Kittel aus blauem Leinen, Halstuch und Schirmmütze. So sah man ihn als eine Art Sokrates, der Gespräche zu initiieren wußte, auf der Straße. Er hieß Eduard. Ungefähr im besten Mannesalter starb er an Magenkrebs. Um den Vater meiner Mutter nicht zu vergessen: er starb, weil sich zuviel Eisenstaub in seiner Lunge angesammelt hatte.

Der Enkel begann sein Studium in Marburg mit Theologie, lernte dabei in Grenzen Griechisch. Er ließ sich alsbald zur Philosophie herüberwinken, und zwar durch Karl Löwith, Schüler Heideggers, damals noch Privatdozent.

In einem literarischen Leben, das ich längst begonnen hatte, war Philosophie das stark mitbewegende Element. Vom Schreiben schrieb ich eines Tages: »Ohne Existenz im Totum hat Dichten keinen Grund. Frage ich also, indem ich gefragt werde, nach dem Grund meines Schreibens, so kann ich immer nur mit der Sache meiner Existenz im Ganzen des Wirklichen antworten, die, objektiv, förmlich das Subjekt von Schreiben ist«.

1932 veröffentlichte ich einen Gedichtband mit dem Titel Ausstellung. Er hatte mit Bildlichem nichts zu tun, sondern meinte das Zeigen von Existenz. In einer Kritik der Vossischen Zeitung hieß es, ich hätte eine Art von Kandinsky-Lyrik begründet. (Also doch Bildhaftes.)

Ich bemerke, daß ich mehr und mehr ins unmittelbar Biographische gerate, will es aber nicht abbrechen, sondern das Gerüst meiner Anfänge, fragmentarisch zwar, vervollständigen.

1933 habe ich als ein kritisches Jahr zu verbuchen. Eine Ausmalung des politischen Aspekts erübrigt sich. Mit meiner Gesundheit stand es schlecht, offenbar hatte ich, schreibend und studierend, meine nervlichen Kräfte überzogen. (Ich verwahre aus der Zeit ein umfangreiches Romanfragment und ein Theaterstück von hundert Seiten.) Zu befürchten war außerdem, daß Dr. Löwith, bei dem ich zu promovieren gedachte, seinen Lehrstuhl verlieren würde. In einer Schwebesituation ging ich 1934 nach Frankfurt, folgte Fritz Kraus, der bei der Frankfurter Zeitung Redakteur für Philosophie geworden war. Ich konnte noch ein paar Prosastücke für die FZ schreiben, dann mußte ich Geduld mit mir selbst haben und mir von anderen schenken lassen.

Wieder veröffentlicht habe ich nach zwanzig Jahren, es war ein kleiner Gedichtband bei V. O. Stomps. Inzwischen war ich Soldat Hitlers (Rußland, Frankreich, Italien, Gefangener in Rimini) und Angestellter in der Fabrik meines Vaters geworden, frönend freilich der Schriftstellerei, wo es anging oder auch nicht anging. 1960 schied ich aus der Firma aus und wurde freier Schriftsteller.

So wie es mir mit Ihnen geht, daß ich in Lexika Bibliographisches nachschlagen kann, so mag, wer Lust hat, es bei mir tun. Man kann von seinen »Arbeiten« sprechen, es sind aber auch die Leistungen, man hat Scheu, diese aufzuzählen, auch »Auszeichnungen«.

Unter welchem Zeichen steht die »Leistung«? Nicht wahr, es ist, eben, die Literatur, das sprachliche Vehikel für Betroffenheiten. Da kann es zwar zum Rechten kommen, aber die Differenz von Sein und Logos bleibt dennoch. Natürlich, es mag spalterisch klingen, Sprache leidet nicht, sondern der leidende Mensch, der sie spricht. Sterben selbst ist faktisch, und ein Leichnam wird begraben. Literatur, die einer gemacht hat, wird weitergegeben, wenn das auch »Abgeben« bedeutet. Abgeben desjenigen, dem jeder Begriff davon genommen ist, was beispielsweise Gedicht hieß. Die Werke der leiblich Verschwundenen stellen sich dar als eine in die Länge wachsende Kette. Denke ich an diese, so fällt mir die wechselhafte Folge von Toden und Nachrufen ein, wie sie so plastisch in den Jahrbüchern dieser Akademie zur Anschauung kommt.

Wenn mich hartnäckig etwas beschäftigt hat und noch immer beschäftigt, so ist es der Gedanke an Sein überhaupt, und überlege ich mir, wie sich mein Denken in der gelebten Zeit gestuft haben könnte, so wäre es zuerst ein Denken gegen, dann eines mit der Notwendigkeit gewesen, bis zur Kapitulation mit dem Wort vor der stupenden Faktizität des Endes, mögen wir diese Faktizität auch verstanden haben. Ich zitierte, ich dachte an Dolf Sternbergers Buch Der verstandene Tod.

Es versteht sich, meine Damen und Herren, daß ich Dank empfinde dafür, in die Akademie aufgenommen worden zu sein.