Hanna Johansen

Schriftstellerin
Geboren 17.6.1939
Gestorben 25.4.2023
Mitglied seit 1993

Das neununddreißigste Jahr müssen wir heute, statistisch betrachtet, die Mitte des Lebens nennen. In meinem 39. Jahr habe ich ein Buch geschrieben. Ein Jahr später erschien es in genau dem Verlag, den ich mir gewünscht hatte. Ich wußte nicht, wie sehr dieses Buch mein Leben verändern und daß ihm eine ganze Reihe von andern Büchern folgen würde. Denn obwohl ich lange mit einem Schriftsteller das Leben geteilt hatte, fürchtete ich noch ein paar Jahre lang, daß hinter dem Projekt, an dem ich mich gerade abarbeitete, nichts mehr käme, weil ich alles gesagt hatte, was mir zu sagen möglich war. Dabei gehöre ich zu denen, die überzeugt sind, ein Roman werde nicht geschrieben, weil jemand etwas begriffen hat und es weiterreichen möchte, sondern wegen der Unbegreiflichkeiten, die uns das Leben schwer machen, auf der öffentlichen oder der privaten Ebene und vor allem überall da, wo beide zusammenkommen. Und da die Dinge, mit denen der Mensch nicht oder schlecht fertig wird, mit dem Fortschreiten der Zeit nicht weniger werden, hört das Schreiben nicht auf.

Bücher über unser Menschenleben habe ich seit 1978 geschrieben, wobei ich mit »unser« ein Übergewicht auf Frauen gelegt haben möchte, was wohl keinen der Herren stören wird, nachdem jahrhundertelang ein so schweres Übergewicht auf ihnen geruht oder gelastet hat.

Gern würde ich die lange Zeit bis zum 39. Jahr beschreiben als meinen Weg zu den Büchern. Da aber die Wahrheit sich im Unübersichtlichen verbirgt, kann das nicht gelingen. Trotzdem ein paar Sätze über das Vergangene, das nicht vergeht, und sei es auch nur, um auf diesen Umwegen meine Themen oder den Boden zu beschreiben, auf dem meine Themen wachsen.

Vor dieser Akademie läge es nahe, auf Universitätsjahre sich zu berufen. Die aber waren, als ich zu schreiben anfing, durch ein Leben mit zwei Kindern sehr weit entfernt, und ich wüßte, da ich gern ehrlich bin, nicht wirklich zu sagen, was sie zu meiner Arbeit beigetragen haben.

Die Wahrheit ist, daß ich zwar akademische Jahre, aber keinerlei Abschluß vorzuweisen habe, Bildung lag auch nicht in der Familie, wofür die Ursachen wohl eher im Finanziellen als im Genetischen zu suchen wären.

Erst etwas Altphilologie habe ich studiert, dann Germanistik und Pädagogik und nebenher als Halbtagssekretärin verdient. Mit nie nachlassendem Unbehagen habe ich schrecklich viel gearbeitet und damit schrecklich wenig erreicht. Es gab da ein Fremdheitsgefühl, das mir einflüsterte, die Universität sei etwas für Leute, die wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen. Ich dürfte heute nicht sagen, ich hätte mit Literatur das falsche Fach gewählt. Aber es gab andere Gebiete, die sich eingeprägt haben. Zum einen die Gruppendynamik, wo mir war, als würden endlich ein paar von den brennenden Fragen beantwortet, die mir seit meinen ersten Lebensjahren als einzelnes Kind auf der Seele lagen. Zum andern die Bekanntschaft mit wissenschaftlichen Experimenten über die Frage, wie weit ein Mensch mit einer sonst unauffälligen Moral zu Unmenschlichkeit bereit ist und andere quält, wenn man es ihm befiehlt oder wenn man es als Forschungsauftrag ausgibt. Die Ergebnisse sind niederschmetternd. Mir erschienen sie damals als eine Aussage über deutsche Vergangenheit. Daß sie heute von neuem aktuell sein würden, habe ich mit Zwanzig nicht geglaubt.

Eine private Entwicklungsgeschichte müßte allerdings früher einsetzen als mit Zwanzig, und die Frage ist, wie früh. Eine Biographie, die es genau nimmt, sollte ja nicht erst mit dem Geburtstag, sondern zumindest bei der Zeugung anfangen, wie es in der Beschreibung von Tristram Shandys Leben geschieht. Aber wer Mr. Shandy und seine Familie kennt, weiß auch, daß sein Beschreiber am Ende des Buches kaum über dessen frühe Kindheit hinausgekommen ist, und das muß ich hier wohl. Ich nehme es darum nicht so genau und fange erst 1939 an. Ich war keine drei Monate alt und lag eines Morgens um sechs im Arm meiner Mutter, als eine der gefürchteten Männerstimmen aus unserm Radio bekanntgab, seit fünf Uhr morgens werde »zurückgeschossen«. Meine Mutter erschrak bis ins Innerste. All ihre Erinnerungen an den Krieg, den sie als Kind erlebt hatte, brachen wieder hervor, und noch heute glaubt sie, sie hätte nicht das Recht gehabt, mir diese Schrecken gewissermaßen mit der Muttermilch einzuflößen. Ich dagegen nehme an, daß die folgenden Jahre stärkere Abdrücke hinterlassen haben als dieser Schock am 1. September. Dabei haben wir immer Glück gehabt und nicht zu denen gehört, die umgebracht, gequält und vertrieben wurden oder auch nur abgebrannt sind.

Zweifellos liegen in diesen Jahren die Wurzeln des Schreibens. Es waren ja nicht nur Jahre von Faschismus und Krieg, es waren auch Jahre des Zuhörens und des Sprechenlernens, denn es gab in einem bedrohlichen Land eine verläßliche Nähe, die mütterliche. Und wer als Kind oft nachts aus dem Haus muß, hört nicht nur Flugzeuge und Detonationen. Man bekommt auch immer neue Nachthimmel zu sehen mit ihren Sternschnuppen und den Verzweigungen der Milchstraße. Vaterlose Jahre waren es, weil die Väter, die noch lebten, erst selten und dann gar nicht mehr von den Kriegsschauplätzen auf Urlaub kamen. Und schließlich waren es für mich Jahre ohne andere Kinder. Spielen schien etwas, das man allein tut. Und daran fühle ich mich, wenn ich heute so lange allein in meiner Schreibtischecke sitze, oft erinnert.

1945 fing die Schule an. 1949, als der Kalte Krieg das öffentliche Leben in einem Ausmaß beherrschte, daß man ihn als das Selbstverständliche gewissermaßen einatmete und darum nur unvollkommen wahrnahm, kam ich, weil wir in einer sozialdemokratisch wählenden Hansestadt mit völliger Lehrmittelfreiheit wohnten, ins Gymnasium.

Seit 1969 wohne ich in der Schweiz. Ich habe aus dem Amerikanischen übersetzt. Ich schreibe Romane, Erzählungen und Kinderbücher. Ich freue mich auf mehr Arbeit. Ich danke, daß Sie mich gewählt haben.