Literaturwissenschaftler und Publizist
Geboren 26.11.1952
Mitglied von 2003 bis 2006
Viererlei Glück in fünf Minuten
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
des Menschen Leben – ist in seiner Dauer und Qualität aphoristisch genug gewürdigt worden, ich werde mich hier nicht einreihen. Mein Leben dauert nun beinahe 51 Jahre, es hätte kürzer sein können, ich hatte Glück (luck). Ich soll mich vorstellen, es soll in fünf Minuten geschehen, ich werde mich also auf einen überschaubaren Aspekt desselben beschränken, das Glück (happiness). Glück ist kein Zustand, Glück gibt es nur in Augenblicken, Glück will nicht dauern, will keine Wiederholung – aber durchaus Streuung in der Zeit: immer mal wieder solche Augenblicke, in denen einem das Höchste zu Teil wird, etwas zu erleben, widerstandsfähig genug in seiner Flüchtigkeit, daß ihm weder Nietzsches Unsinn von der Lust, die Ewigkeit wolle, noch Mutter Kempowskis »Warum kann es bloß nicht immer so sein?« etwas anhaben kann. Glück ist nach Aristoteles das Ziel all unseres Tuns, steht am Ende aller Zweckreihen, ist aber, das weiß ich seit einer nicht zu Ende geführten Dissertation über das europäische Zaubermärchen, in keiner einzelnen durch Mittel zu erreichen. Es ist mit dem Glück wie mit dem Gruseln: es fällt einem zu.
Soviel zum Glück allgemein. Da ich von allem möglichen Glück (happinesss), das einem zufallen kann, wenn man Glück hat (luck), nicht sprechen kann, und von allem, worüber ich sprechen könnte, nicht sprechen will, beschränke ich mich anlaßgemäß auf ein spezielles. Ich bin mit einer mittelgroßen elterlichen Bibliothek aufgewachsen. Die Bibliothek soll früher größer gewesen sein, hieß es, die meisten Bücher seien »beim Engländer«. Nach `45 war nicht mehr so viel dazugekommen, viel Ramsch bei dem wenigen. Das Stöbern ging darum oft ins Leere, ich fand nichts und ich blieb lange auf das angewiesen, was sich auf meinem Geburtstagstisch anfand. Immerhin war ich auf diese Weise bald ziemlich gut in Sachen Perserkriege, Alexanderzug und Hannibal. Und dann war es irgendwann, ganz klischeegerecht ein »schmales Bändchen«, hellblau, ungelesen, das eigentlich in ältere Hände gehört hätte, und das so anfing: »Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.« War das Glück? Luck? Gewiß. Happiness? Ja, was sonst. Nein, keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht über meine Gefühle meiner Mutter gegenüber informieren; sie spielen bei der Attraktivität dieser Anfangszeilen eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist: ich wußte – was heißt »wußte«, ich ahnte, empfand – auf einmal, daß das Leben ganz anders ist. Und daß es möglich war, jenseits seiner eigenen Erfahrungen zu empfinden. Es wurde in diesen Büchern Leben ausgeschenkt, Leben, das man zu Teilen zum Teil seiner selbst machen konnte. Und was für eine Ökonomie: wenige Stunden für ein ganzes Leben – das ist fast gratis.
Dieser Schritt in ein ganz anderes Leben, eine ganz andere Weise, in die Welt zu sehen, hat sich viele Male ereignet – »Glasgelb lag der gesprungene Mond« und »Nichts, niemand, nirgends, nie«, »Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es miteinander abgeredet zu haben, die Überfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen«, »In der Markgrafschaft Hohengeis liegt das Landstädtchen Rom«, »Heda! wer schleicht da? Holla!«, »Die Tagesaufzeichnungen aus dem Jahre 1950«, »Nordweststurm über Berlin«, »›Deutsche Wochen?‹ Alexander hatte die Einladung spontan absagen wollen«, »Fichtennadel, sagte meine Oma«, »Wie hatten sie einander gefunden?«, »O, daß es schwindet« – und ist jedes Mal unvergleichlich gewesen. Daß ein solches erstes Lesen sich nicht wiederholen läßt, sollte uns nicht betrüben. Es wartet das Glück des zweiten Lesens. Es ereignet sich nicht immer. Manchmal hat die erste Lektüre alle mögliche Bekanntheit hergestellt, und das ist es dann auch. Aber oft liest man, daß man noch gar nicht richtig drin gewesen ist in diesem Teil der Welt. Bücher können zu Lebensbegleitern werden, man braucht sie wie Freunde, sie brauchen einen, weil sie Leserleben brauchen, die an Erfahrungen zunehmen, und so ihre Komplexitäten wirklich erfahren. Dieses zweite, ruhigere, Glück setzt später ein und währt, wie das erste, wenn man Glück hat, lebenslang.
Das dritte schließlich ist der Wunsch nach Teilnahme anderer, Mitteilungsdrang. So, wie man im Museum den, der gerade anderswo ist, herbeizerren möchte: Hier! Hast du das gesehen? Das Blau? – nein, hat er nicht – Du mußt hier stehen! Dazu gehört Erfahrung, Wissen. Technisches Verständnis. Wie hat er/sie das gemacht? Warum ist diese Stelle, die ich schon siebenmal gelesen habe, immer noch dermaßen komisch? Warum muß ich bei »John Maynard« immer noch weinen? Das Glück des Verstehens, das immer schon, wenigstens potentiell, das Glück gelingender Mitteilung ist. Nach Momenten dieses Glückes hasche ich seit einer Reihe von Jahren, vorlesend, Vorlesungen haltend, schreibend. Diese Art von Glücksuche ist es wohl gewesen, der ich meine Wahl in diese Akademie verdanke. Dies unterstreicht das Besondere des Vorgangs: wo sonst wird man für Glück belohnt (happiness, nicht luck, ich spreche nicht als der konfirmierte Calvinist, der ich mal war). – Wir müssen uns hier allerdings richtig verstehen, demokratische Ekstasen haben mit solchem Glück der Mitteilung leider nichts zu tun. Es geht um Inklusion in einen exklusiven Kreis. Wo man Interessierte zu Kennern zu machen versucht, schafft man nicht den Club ab, sondern erweitert die Mitgliederzahl, um sie auf Dauer stabil zu halten.
Schließlich gibt es noch eine vierte Form des Glücks, die des manifesten Danks. Latent ist er in der Geste des abermaligen Griffs zum Buch immer vorhanden. Manifest wird er in der Mitteilung, der Empfehlung, der Mühe, das Verstehen der anderen zu befördern – was will ich denn wirklich? Den Lesern ein Buch vor die Augen halten, ohne das ihr Leben ärmer wäre, oder dem Buch Leser zuführen, weil ich auf diese Weise meine Dankesschuld ein wenig abzutragen wünsche? Letztlich ist es dieses. Und weil ich, jenseits des Mitteilens in Wort und Schrift, materielle Möglichkeiten habe, die andere nicht haben, habe ich mich bemüht, diesem Dank auch solchen, materiellen Ausdruck zu geben, das Archivieren und das Edieren zu befördern und ein wenig dazu beizutragen, daß unscheinbare Orte wie Bargfeld oder Oßmannstedt wie Stagira den Klang behalten, den ihrem Namen einmal ein Großer gegeben hat, dessen Hand immer noch Segen spendet, den in Brotkörben unter die Leute bringen zu helfen und das als beglückend zu empfinden – letztlich auch nur eine der vielen möglichen wunderlichen Gebärden ist, mit denen wir alle den Todesweg hinabtanzen – eine bloße Marotte – but it needs all kind of people to make a world.
Sie haben einen Philologen Ihrem Kreis zugewählt, dem das zuständige Motto für einen Teil – den hier entscheidenden Teil – seines Lebens dieses zu sein scheint: »Daß es Bücher gibt, so wertvolle und königliche, daß ganze Gelehrtengeschlechter gut verwendet sind, wenn durch ihre Mühe diese Bücher rein erhalten und verständlich erhalten werden und diesen Glauben immer wieder zu befestigen, ist die Philologie da.«