Juri Andruchowytsch

Schriftsteller
Geboren 13.5.1960
Mitglied seit 2006

Verirrt im Labyrinth des Textes behauptet der Held meines Romans „Perversion“, ein gewisser Stach Perfezkyj, über alles liebe er es, von sich selbst zu erzählen. Weswegen sogar die allerstrengste Beichte vor dem anspruchsvollsten Priester ihm unendlichen seelischen Genuss bereite. Ich muss gestehen, dass ich mich hier nicht mit meinem Helden messen kann – was übrigens ja der Grund ist, warum er das Licht der Welt erblickte.
Und das ist auch der Grund, warum es mir gefällt, meine Biographie zu erfinden. Meinen Fantasien nach bin ich am 13. März 1960 in einer Stadt geboren, die heute nicht mehr existiert, denn weder Stanislawiw noch Stanislau sind auf aktuellen Landkarten zu finden. Genauso wenig wird man eine der Stanislauer Figuren aus den Gedichten meiner Jugendjahre antreffen: Pani Kapitanowa, Doktor Dutka, den alten Olijnyk, die Schwarze Man’ka. Ich glaube, als ich sie zum letzten Mal sah, war ich noch in der Schule, obwohl ich mir gar nicht mehr sicher bin, sie überhaupt je gesehen zu haben. Wie ich mir auch nicht mehr sicher bin, ob es die Schulzeit wirklich gab – das einzige, was auf ihre Realität hindeutet, sind vielleicht die schwarz aufgenommenen Musikkassetten, the dark side of the moon.
Was das Studium betrifft, so habe ich es in einer viel greifbareren Stadt absolviert, die mir bis heute sehr wichtig ist. Sie hat mindestens ein paar Namen, und am liebsten benenne ich sie in Sanskrit – Singapur. Meiner Vorstellung nach müsste diese Stadt allerdings am Rande der Alten Welt liegen, am Atlantischen Ozean, die Hauptstadt wenn nicht eines kleinen Königreichs, so doch eines Großherzogtums. Das echte Lwiw sah natürlich anders aus, aber es enttäuschte meine Hoffnungen trotzdem nicht, und sei es nur, weil es mir die Möglichkeit schenkte, zum ersten Mal eine ganze Reihe von intensiven Berührungen mit dem verführerischen Gewebe des Seins zu erleben. Die Gedichte, die entstanden, waren ebenso intensiv wie diese Berührungen.
Bis heute liebe ich es, über Lwiw zu schreiben. Seit 1982 lebe ich nicht mehr dort, besuche es aber, so oft es geht.
Die Armee hat mich nicht härter gemacht. Mir fehlte sogar der Mut zum Desertieren. Im Großen und Ganzen lernte ich, wie mein Held Otto von F. aus der „Moscoviada“, Menschen in Uniform über alles zu schätzen, für ihr schweres Schicksal und ihre Geradlinigkeit. Ihnen habe ich meinen ersten Prosazyklus gewidmet – sieben 1983-84 während der nächtlichen Wachen im Kontrollhäuschen geschriebene Erzählungen. Sie wurden erst 1989 in einer Charkiwer Zeitschrift veröffentlicht. Vorher zirkulierten sie fünf Jahre lang im Untergrund.
Im April 1985 gründete ich mit Viktor Neborak und Saschko Irwanez Bu-Ba-Bu. Über diese Gruppe könnte ich ewig erzählen, bin mir aber nicht sicher, dass man mich auch mit der entsprechenden Aufmerksamkeit anhören würde. Daher nur ein paar Erläuterungen. Unsere Vereinigung ermöglichte es uns vor allem, die zweite Hälfte der 80er zu überleben. Anfang der 90er dachten wir ernsthaft darüber nach, uns selbst ein Denkmal zu errichten. Am 9. Mai 1994 wurden wir genau hundert Jahre alt, und die Jugend war vorbei.
Etwas früher, am 13. März 1990, wurde mir aus Anlass meines dreißigsten Geburtstages der Rang des Bu-Ba-Bu-Patriarchen verliehen. Das war kein wirklich geistlicher Rang: dieser Patriarch interessiert sich mehr für die Sphäre der „Verbindungsknoten“, also für die „Übergänge des Geistes ins Materielle“. Alles, was ich in der Literatur mache, kann man als heimliches und fast manisches Ertasten dieser schmerzhaften und süßen Knoten ansehen, wovon, wie ich hoffe, einige meiner bisherigen Texte zeugen (vor allem die fünf Gedichtbände und fünf Romane).
Jetzt noch ein paar weitere erfundene Aspekte dieser sog. Biographie, die tatsächlich viel mehr als eine Bibliographie sein möchte.
Einmal zum ewigen Wanderer geworden, habe ich bis heute 107 Städte erlebt. Hier nur ein paar davon.
In Kiew (1985-87) wurde mir neben den anderen Dichtern, an die ich bis ans Ende meiner Tage dankbar denken werde, meine eigene Unzulänglichkeit bewusst.
In Moskau (1989-91) wurde ich Zeuge des Untergangs des letzten russischen Imperiums. Genauer gesagt hatte ich so viel Freiheit und freie Zeit, dass ich es mir erlauben konnte, stundenlang nach Wodka anzustehen, ohne an Vergänglichkeit und Endlichkeit auch nur zu denken.
In Venedig (1992, dann 2001) war ich kaum, obwohl ich mich natürlich an den Märzenstrahl auf dem bunten Plastikschirm vor dem Hotel „Falier“ erinnere.
In Prag, Berlin, Warschau, Krakau und New York (wie in Dutzend anderen, weniger bekannten Städten) verlor ich mich und meine Sachen, Wörter, Gesten, gewann aber nur eines – den dringenden Wunsch wiederzukommen. Diesen Wunsch würde ich als wichtigste Bilanz meiner Biographie bezeichnen, wäre ich nicht zutiefst davon überzeugt, dass es zu früh für jede Bilanz ist, denn – um mit Stach Perfezkyj zu sprechen – es gibt im Leben nichts längeres und dauerhafteres als das Leben selbst.