Hilde Domin

Schriftstellerin
Geboren 27.7.1909
Gestorben 22.2.2006
Mitglied seit 1978

»Sie sind ein junger Aktivist«, sagte Manés Sperber zu mir, als er mir zur Aufnahme in Ihre Reihen gratulierte. Vielleicht sagte er sogar: »Sie sind ja ein junger Aktivist«, womit er einen gewissen Gegensatz andeutete zwischen dem Anspruch auf einen geruhsamen Sessel, wie er mir meinen Jahren nach zukäme – ich bin 1912* in Köln geboren – und der inneren Unruhe, die mich am würdigen Einnehmen eines solchen hindert und ja auch lange gehindert hat. Ich bin als ein Mensch des Dennoch bekannt, einer, der gegen den Strom schwimmt, der sich vor fahrende Züge wirft, als könne er sie aufhalten, und der es im Ernst schwer findet, sich nicht zwischen die Stühle zu setzen. Immerhin ist dies Jahr meiner Aufnahme in die Akademie ein sehr besonderes für mich. Es ist 25 Jahre her, daß ich nach Hause zurückkam: nach Deutschland, wie ich sage und auch empfinde, denn aus Deutschland bin ich ja weggegangen.

Ich bin also unterdes schon etwas länger wieder hier, als ich fortgewesen bin, wenn auch das erstere nicht an einem Stück, das zweite aber 22 Jahre ohne Unterbrechung. Und es ist genau zwei Jahrzehnte, daß mein erster Gedichtband erschienen ist, Nur eine Rose als Stütze. Walter Jens schrieb damals, mit der Rose sei die deutsche Sprache gemeint, die der Halt gewesen sei in den Jahren des Exils. Was mich sofort überzeugte. Ich habe mir daher vorgenommen, diesen Lebenslauf ganz von der Sprache her darzustellen.

In der Tat sind wir ja von Sprache zu Sprache gewandert und haben in jeder unser Leben verdienen müssen: zunächst in der italienischen, in der ich auch promoviert habe, an der Universität Florenz. Wie ich ja auch in der italienischen geheiratet habe, nach italienischem Recht, in dem die Frau fast nur Pflichten und der Mann fast nur Ansprüche hat. Das war im Konservatorenpalast auf dem Kapitol, der Standesbeamte hatte die Tricolore um den Bauch gewickelt und schloß den Katalog meiner künftigen Pflichten mit den Worten: »Vi dichiaro marito e moglie« und dem Nachsatz »ed i bambini si vaccinano«, woraus Sie sehen, was die Sprache tut, denn im Deutschen wäre dergleichen unvorstellbar. »Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau ... und die Kinder werden geimpft«, sagte er. Das war im Oktober 1936, einem Jahr, von dem ab für uns alles rapide schlechter wurde. Vielleicht darf ich in diesem persönlichen Bericht erwähnen, was vielen von Ihnen ohnehin bekannt ist: Ich heiratete Erwin Walter Palm, er hatte über Ovid promoviert, ich über Pontanus, einen Vorläufer des Machiavelli. Die Arbeiten schrieben wir noch auf deutsch, tags schrieben wir, über Nacht wurde von einer italienischen Übersetzerin zusammen mit mir der am Tage geschriebene Text ins Italienische gebracht – wir begriffen dabei zum ersten Mal, wie großartig und vertrackt und unübersetzbar die deutschen Abstracta sind und wie sie umgedacht werden müssen ins Konkrete –, während vor dem Hause die geheim-mobilisierten Soldaten durch die nächtlichen Straßen zogen: gegen Deutschland, wie es zunächst schien. Es war die schwelende österreichische Krise, wir hofften, vor der dann fälligen Flucht den Doctor noch zu schaffen. Dann war es – nur – der abessinische Krieg, wir konnten aufatmen. Vorläufig zumindest.

Nach der Heirat lebten wir wortwörtlich von der Sprache, nämlich vom Sprachunterricht, den ich von morgens 8 bis abends 8 mit kleiner Mittagspause gab: stundenweise und stundenweise schlecht bezahlt. Zwar hatte mir die Universität Florenz eine bescheidene Dozentur angeboten, aber wir zogen zurück nach Rom, Palms Arbeitsfeld als klassischer Archäologe. Abends machten wir die umgekehrte Sprachübung wie bei der Doktorarbeit. Mit einem antifaschistischen Lehrer, der aus dem Schuldienst entlassen war und in einer Spelunke am Tiber gefälschte Antiquitäten verkaufte, ein hochbelesener Mann, revidierten wir die italienischen Texte, die Erwin Palm damals schrieb, wissenschaftliche und – überwiegend – literarische, und erfuhren, daß im Italienischen strenge Ge- und Verbote bestehen, die man nur Hand in Hand mit dem Manzoni oder allenfalls dem Leopardi übertreten darf, schon ganz als Ausländer. Neologismen sind unerwünscht. Dabei ist es das Unerhörte, daß Manzoni, der jetzt der Kanon ist, selber »Ausländer« war. Er war ja Mailänder, und die Promessi Sposi stehen mitnichten so da, wie er sie geschrieben hat, sondern wurden ins Florentinische hineinverbessert. Diese linguistische Akrobatik an Palms italienischen Texten war außerordentlich unterhaltend, im Vergleich zum Frondienst des Deutschunterrichts. Seine französischen Texte, religionswissenschaftliche, bearbeitete ich mit einem Franzosen, nachdem von Menschen wie uns in Italien, dank der Achse Mussolini – Hitler, nichts mehr veröffentlicht werden konnte. In der Schweiz ohnehin nicht.

Die letzten Stunden in Italien redigierte ich einen französischen Text, der in Lüttich angenommen wurde und, wie so vieles, in den ersten Kriegswochen verbrannte. Von der französischen Sprache hörten wir dann hauptsächlich das Wort »merde«, als wir durch Paris kamen auf der Fahrt nach England. Das war während des Einmarschs in die Tschechoslowakei. Vorbereitet hatten wir uns auf das Englische durch die Lektüre von Keats, Shelley und Swinburne. Gedichte lesend und vorlesend haben wir uns jeweils in der fremden Sprache heimisch gemacht. Gedichte lesend verbringt man die Abende, auch in Armut und Verfolgung, sehr glücklich. Meine Eltern schickten uns die englischen Bücher, sowie sie für uns das Visum bekommen hatten, was einem Wunder gleichkam. Nur Alte und Kinder wurden damals, 1939, in England aufgenommen, und wir waren ja beides nicht.

In England lebten wir dreisprachig. Italienisch war unser beider Privatsprache. Es war so gut wie ein Geheimcode. Mit den Eltern sprachen wir deutsch. Und im übrigen bemühten wir uns – auf der Straße auch untereinander, das war gefragt – um das Englische. Die Bücher, die wir kaufen konnten, antiquarisch natürlich, waren Wälzer in kleinstem Druck, Shakespeare in einem Band. Alles in Mammutbänden, komplett, wir haben sie noch.

Schreckenerregend waren im Englischen die festen Floskeln, die etwas anderes bedeuteten, als was gesagt wurde. Zumindest brachte man uns dies bei. »I hope to see you again«, zum Beispiel, meinte, daß unverzeihbare Formfehler im Laufe eines Besuchs gemacht worden waren und daß man dem Betreffenden nie mehr vor Augen kommen sollte. Wenn dies gesagt wurde, wie es am Ende eines Besuchs ja häufig der Fall ist, verfielen wir in Niedergeschlagenheit. Die Diskussion darüber, ob Manzoni oder doch wenigstens Leopardi eine Wendung gebraucht hatte oder hätte, erschien im Rückblick außerordentlich großzügig, denn im Englischen schien einfach gar nichts zu gehen. Nie und nirgends wurden wir so in ein Sprachkorsett gezwängt: nicht von Engländern übrigens, von Schicksalsgenossen, die eine Art Regierung über die Neuankömmlinge ausübten. Der Fremde muß dort, so wurden wir belehrt, warten, ob ein Einheimischer überhaupt Lust hat, ihn wiederzuerkennen, wenn er ihn zum zweitenmal trifft. Im positiven Fall ist herauszufinden, ob er etwas anderes als einen Satz über das Wetter zu hören willens ist. Schweigen wie ein Engländer war das beste. Überraschenderweise konnten wir, bei der Abfahrt, von einem Tag zum andern fließend Englisch.

Ich wurde nach Kriegsbeginn Sprachlehrerin für Diplomatenkinder an einem College in Somerset. Ich war nur kurz Sprachlehrerin, bald fanden wir uns im untersten Deck eines kleinen Dampfers der Cunard White Star Line, unterwegs über den Atlantik. Versehen mit Hilfsmitteln, um Spanisch zu lernen. Also einer englisch-spanischen Grammatik und einem Brush up your Spanish, »Staube Dein Spanisch ab«, während unser Englisch um die Terminologie der Rettungsübungen, des täglichen »boat drill«, bereichert wurde. Auch argentinische und mexikanische Dichter hatten wir dabei auf dieser Fahrt, bei der unser Schwesterschiff versenkt wurde (mit anderen kam Rudolf Olden dabei um).

Sprachlich interessant ist vielleicht noch, daß uns bei der Abfahrt aus Kanada gesagt wurde, in Santo Domingo regiere ein Freund von Hitler, Trujillo mit Namen. Der zweite Mann im Staate, Molina, sei etwas besser. Daß die spanischen Namen Doppelnamen sind, und der Diktator Trujillo Molina hieß, das war uns noch nicht bekannt bei dieser finsteren Eröffnung. – In Lebensgefahr durch ein Wort gerieten wir bei der Ankunft in Jamaica. Das Wort stand im Paß, es hieß »For transshipment« und wurde vom Polizeioffizier so ausgelegt, daß hiermit ein Umsteigen auf dem Wasser gemeint sei, ohne daß der Fuß aufs Land gesetzt werde. Das nächste Wasserflugzeug hatte keinen Platz, das folgende ging erst in zwei Wochen. Von Polizisten mit Gummiknüppeln bewacht sahen wir einem Schicksal entgegen, wie es jetzt die Vietnamflüchtlinge haben: damals keineswegs selten, für unsereinen. Wieso in der Stunde der Abfahrt der rettende Bote des Gouverneurs kam, das führt zu weit. Er kam, sonst wäre ich nicht hier. Und Palm hätte sich nicht in dieser Woche der Real Accademia de San Fernando in Madrid vorgestellt.

In Santo Domingo mußten wir uns entscheiden: sprachen wir nun italienisch oder deutsch miteinander. Wir entschieden uns für Deutsch, natürlich. Wir verkehrten ja sonst, außer mit den Dominikanern, in der Hauptsache mit spanischen Intellektuellen, Flüchtlingen der spanischen Republik. Palm begann mit archäologischen Vorlesungen an der Universität Santo Domingo, wenige Wochen, nachdem wir gelandet waren. Jede Stunde mußte schriftlich vorbereitet werden, allein das Sprachliche kostete pro Stunde Sprechen etwa 20 Stunden Vorbereitung. Die Frau des heutigen spanischen Kulturattachés in Washington, damals Professor an der Universität Santo Domingo, hatte endlose Geduld, mit mir den Text durchzuarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war Italienisch die Basis, von der aus Spanisch betrieben wurde. Jeder Ausrutscher in die so nahe verwandte Sprache war ein Lacherfolg. Neben dem Spanischen gab es, Esperanto der 3. Welt, das Englische. Die italienischen Arbeiten von Palm wurden nun ins Spanische übersetzt, um mitteilbar zu sein. Palm begann, kontinentweit spanisch zu veröffentlichen. Brillante spanische Intellektuelle waren bereit, das mit mir durchzuarbeiten, bis es endlich kaum noch der Arbeit bedurfte. 1947 wurde dann ein Lehrstuhl für Deutsch geschaffen, ein Lektorat, welches ich bekam.

Ich habe Ihnen hier die »permanente Flucht« als permanente Sprachherausforderung dargestellt. Ich glaube, nicht übertrieben zu haben, wenn ich von mir gesagt habe, daß ich Texte gewendet habe, wie andere Kleider wenden.

Als ich nach dem Tode meiner Mutter, über den ich hier nichts sage, an eine Grenze kam, da hatte ich plötzlich die Sprache, der ich so lange gedient hatte. Ich wußte, was ein Wort ist. Ich befreite mich durch Sprache. Ich schrieb deutsch, natürlich. Kaum waren die Gedichte entstanden, so übersetzte ich sie ins Spanische, um zu sehen, was sie als Texte aushielten. Um Abstand zu bekommen. Veröffentlichen war damals keine Frage. Schreiben war Rettung. Ich war 39 Jahre alt, als mein Leben, wie von selbst, zur Vorgeschichte wurde für dies zweite Leben, das ich seither führe.

Den Eintritt in dies neue Leben habe ich so formuliert: »Ich stand auf und ging heim in das Wort. Ich richtete mir ein Zimmer ein in der Luft / unter den Akrobaten und Vögeln. Von wo ich unvertreibbar bin. Das Wort aber war das deutsche Wort. Deswegen fuhr ich zurück über das Meer, dahin, wo das Wort lebt«.

Es war, und Sie werden es mir nach dieser linguistischen Odyssee nachfühlen können, nicht nur das Glück, die eigene Sprache sprechen zu dürfen und sprechen zu hören. Es ist vor allem die Souveränität, die einer im Umgang mit der eigenen Sprache hat. »Mensch / Tier das den Mit-Schmerz kennt«, schreibe ich zum Beispiel. Wäre ich ein Ausländer, jeder könnte kommen und mir sagen: »Mitschmerz gibt es nicht. Das heißt Mitleid bei uns«. Da ich aber als deutscher Dichter deutsch schreibe, bin ich so frei, ich bilde das Wort, weil es mir geschwisterlicher scheint als Mitleid, das etwas von oben nach unten bekommen hat. Die Freude, frei sagen zu können, was ich will, wie ich es will, frei zu atmen und den Sprachductus in Übereinstimmung mit der eigenen Atemführung zu spüren, das ist eine der Hauptfreuden beim Wieder-Zuhause-Sein, für einen Autor.