Georg Hensel

Journalist und Theaterkritiker
Geboren 13.7.1923
Gestorben 17.5.1996
Mitglied seit 1984

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Beim Versuch, mein Leben auf eine Formel zu bringen, bin ich zu der Einsicht gelangt: Ich habe mein Lebensziel zu kurz gesteckt. So wagte ich in meiner Jugend nie den übermütigen Vorsatz, einmal Mitglied einer Akademie zu werden. Über mich nachzudenken, hatte ich als Soldat im Krieg zum letztenmal Zeit und Neigung. Ich kannte die Behauptung, ein Mann könne mit seinem Leben nichts Besseres anfangen, als einen Baum zu pflanzen, ein Buch zu schreiben, ein Kind zu zeugen und – dies hatte ich in der Hitler-Jugend dazugelernt – einen Feind zu töten.

Danach formulierte ich mein Lebensziel: Von einem Feind nicht getötet werden; einen Baum pflanzen; ein Kind zeugen; ein Buch bei Rowohlt. Diesen Verlag verehrte ich über alle Maßen: in ihm erschienen noch in den dreißiger Jahren viele meiner Lieblingsautoren. Als es mir 1945 gelungen war, dem Tod durch Feinde zu entgehen, pflanzte ich unverzüglich ein paar Bäume, schrieb den kleinen Roman Nachtfahrt, er erschien 1949 bei Rowohlt, und 1952 erschien mein Sohn. Ich war 29 Jahre alt und hatte mein Lebensziel jäh erreicht. Was nun noch folgte, konnten nur Übererfüllungen sein, geschenkte Stunden, zumal mir mein erstes Buch klargemacht hatte, daß ich nicht dazu geboren war, Romane zu schreiben.

Nachtfahrt wurde von mehr Kritikern als Lesern gelesen – also von kaum jemand. Beim Schreiben vor der Währungsreform hatte ich für Zigaretten mehr Geld ausgegeben, als das Buch nach der Währungsreform je einbringen konnte. Die Lust an der erzählenden Literatur verging mir, nicht aber die Lust am Erzählen. Ich leitete das Feuilleton der Tageszeitung Darmstädter Echo und wurde Theaterkritiker. Meine Stärke war, daß ich beim Leser so geringe Kenntnisse voraussetzte, wie ich selbst hatte. Vor jeder Premiere las ich, von Angst geschüttelt, fieberhaft, vor allem die Texte der Dramatiker und die Klassiker der Kritik: Lessing, Börne und Heine; Fontane, Brahm und Jacobssohn; Kerr, Ihering und Diebold; Friedell, Musil und Polgar. Was ich fand an erhellenden Einsichten und witzigen Formulierungen, das zitierte ich unerschrocken. Ich dachte: Was mich belehrt, das wird auch den Lesern Spaß machen. Meist hatte ich es – nebenbei bemerkt – von Shakespeare bis Brecht mit Volksschriftstellern zu tun. Die Dramatiker müssen ja sofort – am Abend der Aufführung – verstanden werden. Die Abhängigkeit von der Abendkasse fördert die Klarheit des Stils. Sie kalkulieren deshalb bei ihren Produktionen das Volk ein, das sie freilich Publikum nennen.

Da ich ohne Anschauung nur ungern lerne, reiste ich an die wichtigsten Tatorte des Theaters zwischen London und Mailand, zwischen Paris und Ost-Berlin, zwischen dem griechischen Epidauros und dem off-off-Broadway in Manhattan. Als Theaterkritiker blieb ich ein Erzähler, der sinnliche Eindrücke braucht, bevor er mit Begriffen umgehen kann.

So schrieb ich fünfzehn Jahre lang an einer Art Geschichte des Theaters, ohne es zu bemerken. Als ich 1961 mit einem Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart beauftragt wurde, stellte sich alles, was ich bis dahin geschrieben hatte, als Vorarbeit für dieses Buch heraus. Fünf Jahre danach erschien es in zwei Bänden unter dem Titel Spielplan. Es hatte Folgen; auch die, daß mich die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1975 in ihre Redaktion holte: als Theaterkritiker und als Redakteur, der für das Theater zuständig ist.

Vor diesem Spielplan hatte ich Reisebücher geschrieben; hinterher schrieb ich Theaterbücher. Irgendwo las ich: Wenn du über eine schwierige Sache schreiben mußt, so stelle dir vor, daß du bei einem Professor zum Essen eingeladen bist und daß die Köchin euer Gespräch in der Küche hören kann – rede so, daß es die Köchin versteht und dem Professor der Appetit nicht vergeht. Das ist ein etwas kompliziertes Rezept, doch habe ich schon versucht, es zu befolgen, als ich es noch nicht kannte. Ich folgte meinem Grundsatz: Der moralische Ernst versteht sich im deutschen Theater von selbst; nur der Genuß bedarf immer der Ermutigung. Akademisch kann man solche Bemühungen kaum nennen: So verblüffte mich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, als sie mich mit ihrem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik auszeichnete. Danach, dachte ich tollkühn, kann es nur eine Frage der Zeit sein, dann wirst du in die Akademie gewählt. Es war in der Tat eine Frage der Zeit: es dauerte siebzehn Jahre. Daß es auch zu dieser Übererfüllung meines Lebensziels gekommen ist, dafür danke ich Ihnen.