Lothar Müller

Literaturwissenschaftler und Journalist
Geboren 31.10.1954
Mitglied seit 2021

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Lothar Müller

Am Samstag vor der Bundestagswahl im September 2021 bin ich im Rahmen einer Familienfeier den Rhein hinuntergefahren. Ziel war Bonn, Ausgangspunkt bei sehr sonnigem Wetter Unkel, wo es ein Willy-Brandt-Forum gibt und an der Außenmauer des katholischen Pax-Erholungsheims eine Bronzetafel daran erinnert, dass Konrad Adenauer hier 1935 Zuflucht gefunden hat, als er aus dem Regierungsbezirk Köln ausgewiesen wurde. Ich lebe seit Jahrzehnten in Berlin. Vor dem Wasserwerk, der Villa Hammerschmidt, dem benachbarten Palais Schaumburg, vor allem aber vor dem Bundeskanzleramt, das noch so aussah wie früher in der Tagesschau, stand ich als Kind der alten Bundesrepublik. In meiner Bilderwelt ist dieses Bundeskanzleramt für immer mit dem Gesicht von Helmut Schmidt zur Zeit der Schleyer-Entführung verknüpft. Geboren bin ich Ende Oktober 1954 in Dortmund, aufgewachsen mit gelegentlichen Sonntagsausflügen an den Rhein, der Kindheitswald lag näher an der Emscher als an der Ruhr. Dass im Sommer 1954 Deutschland Fußballweltmeister geworden war, wird meinem Vater herzlich gleichgültig gewesen sein. Vielleicht habe ich deshalb früh den Weg ins BVB-Stadion gesucht. Dass sein Sohn am Reformationstag zur Welt kam, hat er als strenger Katholik nicht unkommentiert gelassen. Seine Hausheiligen waren Thomas von Aquin und Thomas Morus, letzterer weniger wegen der Utopia als wegen seiner Standhaftigkeit gegenüber Heinrich VIII.
Mit einer unbürgerlichen Herkunft kann ich nicht aufwarten. Der Vater war Beamter, vor dem Krieg Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie am ersten Abendgymnasium Deutschlands in Berlin, nach dem Krieg in Dortmund. Die Mutter entstammte einer musisch orientierten Schornsteinfegerfamilie aus Schloss Neuhaus nahe Paderborn im katholischen Ostwestfalen. Einem ihrer Brüder, einem kriegsversehrten Künstler, den es nach München verschlagen hatte, verdanke ich frühe Hinweise auf Jakob Michael Reinhold Lenz, Hamann, auf Adorno, den er gehört hatte, und als Geschenk zum Abitur die Illuminationen und den Angelus Novus von Walter Benjamin.
Figuren aus englischen Kinderbüchern waren zunächst sehr viel wichtiger, Pu der Bär als freundliches Gegenüber der schreckenerregenden Pinocchio-Welt, später der Held in Keine Angst, Sammy in dem Buch von W. H. Canaway, der sich nach dem Tod seiner Eltern in der Suezkrise von Port Said nach Durban in Südafrika durchschlägt. Es war nicht weit von Sammy zum ersten, durch Radio und Zeitung bewusst erlebten großen Nachrichtenblock in meinem Leben, dem Sechstagekrieg 1967. Da tauchte die »halbamtliche Kairoer Tageszeitung Al Ahram« auf und gab die Frage auf: Was ist halbamtlich? Vielleicht sind es die Prägungen von damals, die mich noch heute an die Auffassung binden, die Tageszeitung sei im Kern ein Krisenmedium, das, wenn es selbst in die Krise gerät, sein Heil nicht in der Angleichung an den Magazinjournalismus finden kann. Einen Fernseher gab es in der Familie ebenfalls seit 1967, die Debatten über die Ostverträge kamen ins Haus. Ich gehöre zu den gerade achtzehn Jahre alt gewordenen Jungwählern, die im November 1972 an der vorgezogenen Bundestagswahl teilnehmen durften und für die Fortsetzung der Kanzlerschaft Willy Brandts stimmten.
Was tut Friedrich Schiller, um uns Maria Stuart sympathisch zu machen? Das Aufsatzthema eines seltsamen Gymnasiallehrers blockierte die Einfühlung in die Figuren und kommt mir im Rückblick als eine Art Wegweiser zur Literaturkritik vor. Im Wintersemester 1972 traf ich in Marburg an der Lahn auf den eben berufenen Gert Mattenklott, in dem ich rasch den Lehrer meiner Wahl fand, in Seminaren zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Vorlesungen zum europäischen Roman.
Im Backsteingebäude eines Gymnasiums in Berlin-Neukölln wurde mir in den späten Siebzigerjahren klar, dass das zweite Staatsexamen mich nicht in den Lehrerberuf führen würde. Der Blick aus der Cafeteria der jüngst eröffneten Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße, in der ich mit Mattenklott meine Dissertation über den Anton Reiser von Karl Philipp Moritz besprach, ging auf die Brache des Potsdamer Platzes, über dem Krähenschwärme aufflogen. In den Tonstudios des SFB in der Masurenallee, dann im Landesfunkhaus des NDR in Hannover, in der Sendung Texte und Zeichen, lernte ich, wie man akustisches Feuilleton macht, unter dem Zeitregime der Aktualität. Als die Mauer fiel, hatte ich kurz zuvor ein Zimmer in der Villa am Hüttenweg in Berlin-Dahlem bezogen, in der die Komparatisten der Freien Universität um Eberhard Lämmert residierten. Es war von dort plötzlich nicht weit in die alte Mitte Berlins, zur Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt, mit Mittlerfiguren zwischen Ost und West wie dem Romanisten »Carlo« Barck. Ein Aufnahmestudio des NDR in der Hubertusallee stand für Berichte aus der Stadt im Umbruch zur Verfügung. Vielleicht haben meine Wanderungsbewegungenzwischen Feuilleton und Wissenschaft etwas Generationstypisches. Wenig später folgten in der Berliner Dependance der FAZ nahe dem Bahnhof Friedrichstraße die »Berliner Seiten« in der Dotcom-Krise dem Pop-Imperativ »Die young!«. Aus dem Quergebäude hinter dem Restaurant Borchardt ist das Hauptstadtbüro der Süddeutschen Zeitung längst ausgezogen, für die ich seit 2001 fast zwanzig Jahre lang im Feuilleton tätig war.
Was ist journalistische Autorschaft? Rezensionen, Glossen, Kommentare, Aufmacher, »Streiflichter« schreiben, Redigieren, Literaturseiten umbrechen. Aber nicht nur das. Generationstypisch ist vielleicht auch meine Erfahrung und Überzeugung, dass es den Zeitungen, zumal den Feuilletons, guttut, wenn ihre Redakteure und Redakteurinnen auch außerhalb der Zeitung schreiben, nicht nur in Zeitungs-, sondern auch in Buchformaten. Immer lockerer wurde im Übrigen das Bündnis zwischen der Tageszeitung und dem Papier. Den Beginn ihrer digitalen Neuerfindung habe ich miterlebt, der Rückblick auf ihren Aufstieg als neues Medium seit dem 17. Jahrhundert beschäftigt mich seit längerem. Im Frühjahr 2020 hatte das Redakteursdasein ein Ende. Danach konnte ich Ihre Einladung annehmen, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu werden. Für diese Einladung danke ich sehr.