Thomas Hettche

Schriftsteller
Geboren 30.11.1964
Mitglied seit 2015

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Verehrter Präsident,
sehr geehrte Mitglieder der Akademie für Sprache und Dichtung,
sosehr es mich freut, heute hier zu stehen, so beharrlich pocht dabei ein bestimmter, äußerst unpassender Gedanke in mir, der Gedanke, daß meine Eltern niemanden von Ihnen kennen. Nicht Ihre Gesichter und nicht Ihre Namen und nicht eines der Bücher, die Sie geschrieben, herausgegeben und übersetzt haben. Ja, sie wissen nicht einmal von der Existenz dieser Akademie und von keiner Akademie.
Erlauben Sie mir, einen Moment bei diesem so unpassenden Gedanken zu bleiben und also bei der Frage, weshalb mir wohl daran liegt, gerade jetzt, in diesem Augenblick der so freundlichen Aufnahme, eine Fremdheit zu betonen, die ich selbst gar nicht empfinde. Schon weil mir Darmstadt, der Sitz der Akademie, seit der Kindheit in besonderer Weise vertraut ist.
Sie müssen wissen: Nördlich des oberhessischen Dorfes, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, in den hohen Buchenwäldern, in denen ich als Kind herumstrich, verläuft ziemlich schnurgerade ein alter Grenzweg über die Kuppe des Totenbergs hinweg, wie der Hausberg meines Heimatortes heißt. In regelmäßigen Abständen ist dieser Weg von Grenzsteinen gesäumt aus dem heimischen Basalt, die auf einer Seite die tief eingegrabenen Buchstaben HC zeigen und auf der anderen HD für die Landgrafschaften Hessen-­Kassel und Hessen­Darmstadt. Mein Vater hat mir das bei unseren sonntäglichen Spaziergängen immer wieder erklärt, und eine ganz kindhafte Hingezogenheit zu diesem Ort mit dem häßlichen Namen hat mich seitdem nie mehr ganz verlassen.
Wenn ich jetzt meine Herkunft mit dem Moment hier vor Ihnen in eine Flucht zu bringen versuchte – und darum geht es ja im Bericht für eine Akademie, einem Bericht über mein Vorleben –, wäre das ja durchaus ein möglicher Ausgangspunkt auf der gefluchteten Linie zwischen Herkunft und Jetzt. Aber sonst? Ich wüßte nicht, was ich, geboren in Westdeutschland Mitte der 1960er Jahre, zu erzählen haben sollte. Statt Briefen gab es Geburtstagswünsche auf Grußkarten, die Musik machten, wenn man sie öffnete. Ansonsten gab es keine Musik. Keine Bücher. Es gab das Grauen der Vertreibung, das in meiner Mutter saß, ihr Leben lang. Den Antimodernismus einer kleinbürgerlichen Sozialdemokratie im Herzen meines Vaters.
Wir waren so viele: All diese Susannes und Sabines und Stefane und Michaele! Und all diese ungläubigen Thomase, immer die Hand in der Wunde aus Unsicherheit, denn mit meiner Generation wurde die Herkunftslosigkeit Programm. Überall, wohin wir kamen, waren die Traditionen gerade abgeräumt worden und die Zukunft gleich mit: Niemand, hieß es, wartet auf euch. Mag sein, das ist der Grund, weshalb mir jede Art von Lebenslauf unpassend erscheint. So unpassend wie ich selbst mir. Fremd in allem, selbst hier in diesem Moment, der ja tatsächlich etwas von einer Ankunft hat.
Ersparen Sie mir also eine erzählerisch beglaubigte Biographie, die auf diesen Moment hier zuliefe – und wie wäre es möglich, es zu vermeiden? –, zumal es gute ästhetische Gründe gibt, dem ganzen Genre zu mißtrauen. Und lassen Sie mich statt dessen an jenen Moment erinnern, da das Kind, das ich war, plötzlich Gesichter aus dem Tapetenmuster ansahen und es dem Kind gelang, diese Gesichter verschwinden und wiederkommen zu lassen, ganz wie es wollte. Und an jenen allerersten Moment völliger Verlassenheit auf einem leeren Feld unter einem schweren Herbsthimmel – Kartoffelfeuer, Rübenhaufen, Stoppelfurchen –, der mit der plötzlichen Gewißheit zusammenfiel, ebendieses Verlassensein sei es, was mich mit der Welt verbinde.
In jener Zeit begriff ich, welcher Reichtum in der Traditionslosigkeit liegt. In der herzklopfensneuen Aufregung, eine unbekannte Musik, unverdorben von elterlicher Bildung, zum allerersten Mal zu hören. In der Souveränität, etwas nur aus einem Grund zu lesen: weil man es möchte. Töne und Wörter können, in unverstellten Ohren und Augen, die brüllende Brandung sein und das Glitzern der Sterne. Madame Chauchat schlug die klirrende Glastür zu, und ich sah ihr nach. Zum ersten Mal im Geruch eines Mädchens die Augen zu schließen. Die ersten Zeilen eines ersten Gedichtes.
Wobei sich in meinem Verhältnis zu jenen epiphanischen Momenten im Laufe der Jahrzehnte eigentlich nichts geändert hat. Vielleicht bin ich heute ein wenig geübter darin, ein paar mehr Sätze von jenem Ort mitzubringen, an den ich leider so selten gelange. Eine Biographie ergibt sich daraus aber nicht. Im Gegenteil. Bin ich doch überzeugt, daß es dort, in jenem Innersten, in dem es in uns schreibt und träumt und wo jener Hauch weht, animula vagula blandula, der die Maske der Person durchströmt, die wir sind, keine Entwicklung gibt, nur die Freude am Verstehen, keine Geschichte, nur die Empfindung von Lebendigkeit, keine Zeit, nur die Trauer um das eigene Vergehen.
Und daß es nur deshalb die Literatur gibt und daß die Geschichte, die ich erzähle, exakt die Geschichte ist, die mein Ich nicht hat. Und daß meine Erzählung die Zeit erzählt, die sie nicht kennt, als Glück. Und weil das so ist, weil Sprache Glück ist, werde ich nach diesen Tagen hier zu meiner Mutter fahren und ihr, in ihre Demenz hinein, von Ihnen allen erzählen. Sie freut sich immer so, wenn ich bei ihr bin und sie meine Stimme hört. Und ich werde ihr erklären, was eine Akademie ist. Ein Ort jenseits der Biographien. Ein Ort in der Sprache. Und ich bin mir sicher: Verstünde sie, was ich sage, würde sie sich bei Ihnen bedanken wollen für die große Freundlichkeit, ihren Sohn aufzunehmen an einen solch wunderbaren Ort.